Von Olga Samofalowa
Die Ukraine hat schon vor langer Zeit beschlossen, keinen neuen Vertrag über den Transit russischen Gases in den Westen abzuschließen. Es gab jedoch eine Idee, und zwar von Kiew selbst vorgebracht, den Ort der Lieferung und Abnahme von russischem Gas an die Verbraucher zu ändern. Heute fließt laut allen Dokumenten russisches Gas durch die Ukraine. Europäisch wird es erst an der ukrainischen Grenze zur EU.
Kiew schlug vor, den Liefer- und Abnahmepunkt für dieses Gas an die russisch-ukrainische Grenze zu verlegen. Dort sollte das Gas gemäß den Dokumenten in das Eigentum von Europäern oder Händlern übergehen. In diesem Fall würde nicht russisches, sondern slowakisches, österreichisches oder ungarisches Gas durch ukrainisches Gebiet fließen.
Außerdem nähme in diesem Fall nicht Gazprom an den Auktionen für Rohrleitungskapazitäten teil, sondern eine dritte Partei – die europäischen Käufer selbst, ihre Vertreter oder dritte Händler.
Letzte Woche hat der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij jedoch selbst diese Möglichkeit des Transits verworfen. Er sagte, die Ukraine werde nach dem 31. Dezember 2024 kein russisches Gas mehr durchleiten, selbst wenn es sich nicht um russisches, sondern um europäisches Gas handeln würde. Wörtlich erklärte der ukrainische Machthaber:
“Wir wollen keine Spielchen spielen. Wenn ein anderes Land Erdgas aus Russland erhält und dann sein Gas weiterleitet, ist das dasselbe, als würde man Geld nach Russland schicken. Wenn ein europäisches Land bereit ist, Erdgas zu beziehen und dieses Geld nicht an Russland zu zahlen, bis der Konflikt beendet ist, können wir darüber nachdenken.”
Die ersten Leidtragenden werden die Slowakei, Österreich, Ungarn und Moldawien sein, die jährlich 15 Milliarden Kubikmeter Erdgas im Transit durch die Ukraine erhalten.
Zunächst wird der gesamte europäische Gasmarkt in Mitleidenschaft gezogen, da der Verlust dieser Gasmengen auf dem Höhepunkt der Heizsaison unweigerlich zu einem Anstieg der Preise auf den europäischen Gasmärkten führen wird, was bedeutet, dass jeder mehr für das Erdgas bezahlen muss.
Zweitens werden die Einnahmen aus dem Gastransit wegfallen. Die Ukraine selbst wird zusätzliche Einnahmen verlieren, ebenso wie die Slowakei, die bisher einen Teil des Brennstoffs durch ihr Gebiet weiterleitete.
Drittens müssen Ungarn, die Slowakei, Österreich und Moldawien in der kalten Jahreszeit auf dem Weltmarkt nach Flüssiggasmengen suchen, was teurer sein wird. Außerdem müssen sie eine neue, kompliziertere und teurere Lieferroute für das Flüssiggas in ihre Gebiete bauen. Alle diese Länder sind Binnenländer und haben daher keine Flüssiggas-Hafenterminals, um das Flüssiggas aus Tankern aufzunehmen.
Ungarn ist in der günstigsten Position, weil es im letzten Jahr die Gasbezüge über die Ukraine reduziert hat und für die Lieferung der wichtigsten Brennstoffmengen die südliche Route nutzt – über die TurkStream-Pipeline.
Igor Juschkow, Experte des russischen Nationalen Energiesicherheitsfonds und der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation, erklärt:
“Ungarn erhielt im vergangenen Jahr nur noch eine Milliarde Kubikmeter Gas über den Transit durch die Ukraine, bei Gasimporten von insgesamt fünf Milliarden Kubikmetern. Es ist geografisch günstiger und profitabler für sie, die nordöstlichen Regionen des Landes über die Ukraine zu beliefern als über die südliche Route.”
In diesem Sommer hatte der ungarische Außenminister Péter Szijjártó das Büro von Gazprom in Sankt Petersburg besucht, woraufhin Ungarn versicherte, sich über alles geeinigt zu haben.
Juschkow glaubt, dass Ungarn mit Gazprom vereinbart hat, dass im Falle einer Unterbrechung des Transits durch die Ukraine ab dem 1. Januar eine Milliarde Kubikmeter garantiert durch die TurkStream-Pipeline fließen werden. Für Ungarn bleibt also alles beim Alten: Das Land wird weiterhin seine fünf Milliarden Kubikmeter Erdgas von Gazprom erhalten, unabhängig von der Situation beim ukrainischen Transit.
Außerdem hat Russland das Problem mit den US-Sanktionen gegen die Gazprombank gelöst. Ungarn sollte also keine Probleme haben, für russische Gaslieferungen zu bezahlen. Budapest hat sich also von allen Seiten abgesichert, fügt der Experte hinzu.
Österreich, das früher sieben bis neun Milliarden Kubikmeter pro Jahr von Gazprom bezog, und die Slowakei, die vier bis fünf Milliarden Kubikmeter abnahm, seien in einer ungünstigeren Lage.
Ein kleiner Teil des Erdgases, das durch Österreich fließt, geht auch in die Tschechische Republik und möglicherweise sogar nach Italien, fügt Juschkow hinzu. Nur kleine Mengen der Kapazitäten können auf die TurkStream-Pipeline umgeleitet werden, nämlich ein paar Milliarden Kubikmetern, aber nicht die gesamten 15 Milliarden Kubikmeter, die derzeit durch die Ukraine fließen.
Juschkow erklärt die technischen Einzelheiten:
“Wenn der Transit ab dem 1. Januar unterbrochen wird, müssen Österreich und die Slowakei in der ersten Zeit beschleunigt Erdgas aus unterirdischen Speichern sowohl im Inland als auch bei ihren Nachbarn beziehen. Gleichzeitig werden sie nach einer Möglichkeit suchen, Flüssiggas auf dem Weltmarkt zu kontrahieren und eine neue Versorgungslogistik aufzubauen. Dabei kann es sich um unterschiedliche Wege handeln. Flüssigerdgas (LNG) kann über LNG-Terminals in Italien, Deutschland und sogar in den Niederlanden und Belgien tief in den Kontinent hineingezogen werden. Sie verfügen über überschüssige LNG-Empfangskapazitäten sowie über eine Gaspipeline, die früher für die Nord-Stream-Pipeline genutzt wurde und durch die Gas über Deutschland, die Tschechische Republik und die Slowakei bis nach Österreich geliefert werden kann.”
Allerdings wird diese Alternative zu russischem Erdgas definitiv viel teurer sein, die Gaslieferungen werden länger dauern. Denn es wird notwendig sein, Flüssiggas auf dem Weltmarkt zu finden, es zu einem höheren Preis zu kaufen, es in den Küstenstaat zu bringen, für die Entgegennahme und die Regasifizierung, also die Umwandlung vom verflüssigten in den gasförmigen Zustand, zu zahlen und dann für das Pumpen des Gases in sein Gebiet zu bezahlen, schildert der Experte die technischen Details. Gleichzeitig werden die Marktpreise für Gas an der europäischen Börse nach der Nachricht über die Unterbrechung des ukrainischen Transits steigen.
Die unerwartete Ankunft des slowakischen Ministerpräsidenten Robert Fico am 22. November in Moskau und sein Arbeitstreffen mit dem russischen Präsident Wladimir Putin zeigen, wie wichtig die Aufrechterhaltung der Gaslieferungen aus Russland für die Slowakei ist.
Fico habe die Angst vor möglichen Sekundärsanktionen überwunden und ist nach Moskau gekommen, das sei eine mutige Entscheidung, meint Juschkow. Damit zeige er, dass die Gaslieferungen für die Slowakei extrem wichtig sind und dass er alles tut, um sie zu erhalten.
Russland hat seinerseits seine Bereitschaft gezeigt, große Anstrengungen zu unternehmen, um die Gaslieferungen über die Ukraine aufrechtzuerhalten. Insbesondere änderte Putin zweimal sein Dekret aus dem Jahr 2022, das den Europäern vorschrieb, die Gaslieferungen über die Gazprombank zu bezahlen. Nach den US-Sanktionen wurde diese Bank ab dem 20. Dezember unbrauchbar, und die Europäer konnten nicht mehr über sie bezahlen. Daher änderte Russland zunächst das Zahlungssystem und erlaubte den Europäern, die Zahlung an einen Dritten zu überweisen und sich nicht direkt an die Gazprombank zu wenden. Aber anscheinend hatten die Europäer trotzdem Angst davor, denn Putin änderte das Dekret schließlich noch einmal. Jetzt können die Europäer das Erdgas über jedes beliebige Finanzinstitut bezahlen, solange das Geld nach Russland fließt. Diese Regelung wird mindestens bis April 2025 in Kraft sein.
Wenn Selenskij jedoch seinen Worten Taten folgen lässt und nicht zulässt, dass Erdgas in irgendeiner Form durch die Ukraine gepumpt wird, auch nicht als Eigentum der Europäer selbst, dann spielt das alles keine Rolle mehr. Moskau hat aber seinerseits alles getan, was möglich ist.
Juschkow dazu:
“Ich denke, Putin hat Fico mitgeteilt, dass Russland den Gashandel selbst in die Hand nehmen will, weshalb es das Zahlungssystem geändert hat und sogar bereit ist, den Zeitpunkt der Lieferung – die Annahme des Gases – zu verlegen. Aber es kann Selenskij nicht zwingen, seine Meinung zu ändern. Die Slowakei hingegen verfügt über Instrumente, um die Ukraine zu beeinflussen. Sie kann die Strom- und Öllieferungen an die Ukraine unterbrechen und die Finanzhilfe auf EU-Ebene verweigern. Der Ball liegt in dieser Frage jetzt auf der Seite der Europäer. Russland kann hier nichts tun.”
Die Situation mit Moldawien hat ihre Besonderheiten. Theoretisch könnte das Land über die TurkStream-Pipeline mit Erdgas versorgt werden, aber ein kleiner Abschnitt von ein paar Dutzenden Kilometern zwischen Rumänien und Moldawien verläuft durch ukrainisches Gebiet. Wenn die Ukraine also prinzipienfest bleibt und kein Erdgas durch das Land fließen lässt, wird auch Moldawien ohne Gas dastehen. Das staatliche Kraftwerk in Transnistrien kann zwar auf Kohle statt auf Erdgas umstellen, aber es stellt sich dann die Frage der regelmäßigen Kohleversorgung.
Für die Ukraine selbst ist die Situation auch aus wirtschaftlicher Sicht ungünstig. Kiew kauft schon lange kein russisches Gas mehr für sich: Der Verbrauch ist längst um ein Vielfaches gesunken, und die eigene Produktion reicht für die verbleibende Bevölkerung aus. Neben dem Verlust der Transiteinnahmen gibt es aber auch technische Schwierigkeiten. Kiew hat traditionell Erdgas aus dem Transit genommen, um seine östlichen Regionen zu versorgen. An der westlichen Grenze zu Europa würde es dann die gleichen Gasmengen wieder in die Leitung einspeisen, die es aus unterirdischen Speichern oder der eigenen Produktion im Westen entnommen hat.
Juschkow erläutert:
“Der Ausfall des Transits ist ein großes Problem für die Ukraine. Wenn es keinen Transit gibt, muss Kiew tatsächlich Gas vom Westen in den Osten pumpen, das heißt, von der Zentralukraine in die Ostukraine. Es ist schwer zu sagen, wie das funktionieren soll, da das ukrainische Gastransportsystem in seiner über ein halbes Jahrhundert währenden Geschichte noch nie auf diese Weise betrieben wurde. Der Gasstrom muss in der Leitung physisch in die entgegengesetzte Richtung umgeleitet werden, und das auch noch auf dem Höhepunkt der Heizperiode im Januar. Außerdem wird der Druck in der Leitung erheblich sinken.”
Auch die Kosten für die Ukraine, die kein Geld mehr für den Transit erhält, werden steigen. Die Kosten für den Transport einer Gasmenge pro Einheit werden höher sein als jetzt. Denn je weniger man pumpt, desto teurer werde jeder Kubikmeter. Das werde natürlich auf die Verbraucher abgewälzt, so der Experte weiter.
Schließlich geben auch die sehr geringen Gasreserven in den ukrainischen Untergrundspeichern Anlass zur Sorge. Mitte Dezember befanden sich nur noch 6,3 Milliarden Kubikmeter Erdgas in den ukrainischen Speicheranlagen. Ein Jahr zuvor waren es noch 9,7 Milliarden Kubikmeter gewesen.
Dies wird zu Problemen führen, wenn es entweder zu lang anhaltenden Frösten oder zu Frösten im Februar und März kommt – also gegen Ende der Heizsaison –, wenn nur noch sehr wenig Erdgas in den Untergrundspeichern vorhanden ist und es strenge Beschränkungen für die täglichen Gasentnahmen eingeleitet werden. “Dies kann zur Schließung von Industrieanlagen und im schlimmsten Fall sogar von sozialen Einrichtungen führen, um die Gasversorgung zumindest in Siedlungen für die Beheizung von Wohnhäusern aufrechtzuerhalten”, sagt der Experte abschließend.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 24. Dezember 2024 zuerst auf der Website der Zeitung Wsgljad erschienen.
Olga Samofalowa ist Wirtschaftsanalystin bei der Zeitung Wsgljad.
Mehr zum Thema – Selenskij: “Fico kämpft um Geld und verfolgt persönliche Interessen”