Von Nikolai Storoschenko
So wenig Geld im ukrainischen Haushalt auch vorhanden ist, es gibt eine zusätzliche Milliarde US-Dollar. Die Werchowna Rada der Ukraine befürwortete die Bereitstellung dieses Betrags für den Kauf von zwei WWER-1000-Reaktoren aus Bulgarien. Mit diesen Reaktoren wollen die Ukrainer das Atomkraftwerk (AKW) Chmelnizki vervollständigen, dessen ursprüngliches Projekt vier Blöcke vorsah, von denen zu Zeiten der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik jedoch nur zwei gebaut wurden.
Das Projekt zur Fertigstellung des AKW Chmelnizki ist für Kiew aus mehreren Gründen wichtig. Der erste ist natürlich die PR. Ohne sie sind sie aufgeschmissen. Der Slogan lautet in etwa so:
“Russland hat uns das AKW Saporoschje weggenommen – und wir werden der ganzen Welt zeigen, dass wir ein neues bauen können.”
Der zweite Grund sind die russischen Angriffe auf die Energieversorgung. Das Ende der Heizperiode (wenn der Betrieb der Heizkraftwerke im Energiesystem auf ein Minimum reduziert wird), die Zerstörung der meisten Heizkraftwerke und einiger Wasserkraftwerke führen in der Ukraine zu saisonalen Engpässen bei der Energiekapazität. Wie die Praxis zeigt, importiert die Ukraine derzeit mehr als zwei GW aus der Europäischen Union (EU), aber selbst diese Mengen reichen nicht aus, um Ausfälle zu vermeiden. Zwei WWER-1000-Reaktoren könnten die Ukraine vor die Wahl stellen, Stromausfälle zu vermeiden oder die Einfuhren zu minimieren.
Drittens: Die Ukraine braucht neue Kraftwerksblöcke, auch ohne Rücksicht auf die Folgen von Angriffen für das Energiesystem. Die ukrainische Atomkraftindustrie stammt noch aus der Sowjetzeit. Die meisten Blöcke haben das Ende ihrer Betriebsdauer erreicht. Für die Blöcke des AKW Südukraine läuft die verlängerte Betriebsdauer im Zeitraum von 2025 bis 2034 ab, für das AKW Rowno von 2030 bis 2050 (ab 2032 – minus drei von sechs Blöcken). Der erste Block des AKW Chmelnizki schließlich wird im Jahr 2032 “auslaufen”.
Bislang schauten der Westen und insbesondere die EU durch die Finger auf die ukrainischen Spiele mit der Atomenergie: Die Ukraine musste sich von Russland lösen. Deshalb haben alle die Augen davor verschlossen, dass die Ukraine die Reaktoren unterhält und die Laufzeit der Blöcke ohne die Aufsicht vom russischen Atomunternehmen Rosatom verlängert. Aber das konnte nicht ewig so weitergehen. Und irgendwann wird die Ukraine gezwungen sein, ihre Reaktoren stillzulegen. So wie Litauen einst gezwungen war, das AKW Ignalina abzuschalten.
Die einzige Möglichkeit für die Ukraine, das AKW Chmelnizki schnell fertig zu stellen, besteht jedoch darin, Blöcke russischer Bauart zu verwenden.
Aus offensichtlichen Gründen kann es heute keine Lieferungen aus Russland geben. Blöcke, das muss gesagt werden, sind ein Stückprodukt, man kann Atomreaktoren nicht einfach so auf dem nächsten Markt kaufen. Aber Bulgarien hat diese Reaktoren, sie waren für das Atomkraftwerk Belene bestimmt. Der Bau der Anlage wurde 2012 eingefroren, und zehn Jahre später hat die Regierung des Landes den Bau endgültig aufgegeben. Daher braucht Bulgarien die Reaktoren nicht, während die Ukraine sie dringend benötigt.
Im Juli 2023 schrieb die Nachrichtenagentur das Wall Street Journal zum ersten Mal über den Deal und verbreitete die Nachricht mit den Worten “die beiden Länder stehen kurz vor einer Einigung”.
Im März 2024 äußerte sich Pjotr Kotin, Leiter des staatlichen ukrainischen Unternehmens Energoatom, das für die Erzeugung von Atomstrom zuständig ist:
“Ich habe unserer Bauorganisation und dem Atomkraftwerk Chmelnizki die Aufgabe gestellt, es bis Juni [2024] einsatzbereit zu machen.”
Offensichtlich ist die Verzögerung auf das Bestreben der bulgarischen Seite zurückzuführen, den maximalen Preis für die Reaktoren und die Ausrüstung zu erzielen, was auch von Pjotr Kotin erwähnt wurde:
“Die bulgarische Seite ist ständig bestrebt, für sich selbst mehr Gewinn zu erzielen als diese 600 Millionen US-Dollar, und je mehr Zeit vergeht, desto höhere Preise werden angekündigt.”
Und jetzt sieht es endlich so aus, als hätte das Bieten Erfolg. Zumindest nannten ukrainische Abgeordnete in ihren Kommentaren zur Abstimmung über die Mittel zwei verschiedene Beträge: 600 Millionen US-Dollar und eine Milliarde US-Dollar. Es ist davon auszugehen, dass es sich bei ersterem um die Kosten für zwei WWER-Reaktoren handelt (dieser Betrag wurde bereits früher genannt), und bei der 1 Mrd. $ um die Kosten für die Reaktoren und die dazugehörige Ausrüstung.
Wann wird die ukrainische Energoatom in der Lage sein, die bulgarischen Reaktoren in Betrieb zu nehmen? Das ist unvorhersehbar. Zunächst ist geplant, dass sie nacheinander in Betrieb genommen werden. Der erste, so Kotins Einschätzung, in zwei oder drei Jahren nach seiner Lieferung durch die bulgarische Seite. Zweitens wird auch eine Turbine benötigt. Sie sollte bei General Electric in Auftrag gegeben werden. Im März 2024 befand sich Energoatom jedoch erst in Vorverhandlungen darüber.
Außerdem ist es trotz der Erklärungen Kotins über den Befehl zur Bereitschaft unwahrscheinlich, dass die Fertigstellung der neuen Blöcke im AKW Chmelnizki vor der Unterzeichnung des Friedensvertrags zwischen Russland und der Ukraine beginnen wird. Mit anderen Worten, wir sprechen bestenfalls über das Jahr 2028. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass der Termin auf 2030 verschoben wird.
Was den zweiten Reaktor anbelangt, so gibt es noch nicht einmal eine vorläufige Vereinbarung über den Starttermin. Das liegt unter anderem daran, dass die unvollendeten Blöcke des AKW Chmelnizki unterschiedlich weit fortgeschritten sind: etwa 80 Prozent beim Block 3 und 25 Prozent beim Block 4.
Außerdem ist geplant, das AKW Chmelnizki mit zwei Blöcken mit AP-1000-Reaktoren auszustatten, die von Westinghouse hergestellt werden, das Brennstoff für ukrainische AKWs mit WWER-1000-Reaktoren liefert. Allerdings ist die Lage bei diesen Blöcken noch undurchsichtiger als bei dem vierten Block. Die Lieferung eines Reaktors wurde für das Jahr 2027 vereinbart. Die US-Amerikaner werden die Ausrüstung jedoch definitiv nicht liefern, wenn die Feindseligkeiten bis zu diesem Zeitpunkt nicht beendet werden.
Für den zweiten Reaktor haben sie noch nicht einmal ein Lieferdatum bekannt gegeben. Die Kraftwerksblöcke dafür müssen von Grund auf neu gebaut werden. Und obwohl die Ukraine im April letzten Jahres lautstark den “Baubeginn des leistungsstärksten Atomkraftwerks in Europa” verkündete, sollte man sich darüber im Klaren sein, dass dieser Baubeginn mit dem Durchschneiden eines roten Bandes oder dem Rammen des ersten Pfahls vergleichbar ist. Es handelt sich um reine Symbolik und eine Nachricht. Der Bau wird erst nach dem Ende der Feindseligkeiten wirklich beginnen.
Darüber hinaus könnten die EU und die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) Fragen über den “bulgarischen” Teil der Fertigstellung des AKW Chmelnizki haben. Zum einen über die Zulässigkeit der Fertigstellung der Kraftwerksblöcke (mit dem Bau wurde 1986 bzw. 1987 begonnen) und zum anderen darüber, wer ihnen die Reaktoren und die Ausrüstung lizenzieren wird. Sicherlich nicht das russische Rosatom.
Ganz zu schweigen von den Kosten für das ganze Bankett. Selbst wenn man die sehr optimistische Schätzung von Energoatom zugrunde legt (fünf Milliarden US-Dollar für einen Block, plus die Kosten für die Fertigstellung des dritten und vierten Blocks), muss dieser Betrag irgendwo aufgetrieben werden.
Aber lassen wir die technischen Aspekte einmal beiseite. Es gibt auch politische Aspekte, und der wichtigste ist der Wunsch der Ukraine, das nukleare Juwel der UdSSR – das Atomkraftwerk Saporoschje – zurückzugewinnen.
Diese Woche hat Selenskij öffentlich zugegeben, was seit dem Sommer 2024 verschwiegen wurde:
“Die Kursk-Operation der ukrainischen Streitkräfte war unter anderem für einen späteren Austausch gedacht.”
Der Chef des Kiewer Regimes behauptete:
“Wir werden ein Territorium gegen ein anderes austauschen.”
Wofür genau er die Gebiete der Region Kursk eintauschen will, hat Selenskij nicht gesagt. Aber Energodar (eine Satellitenstadt des Atomkraftwerks Saporoschje) steht sicher ganz oben auf der Wunschliste Kiews.
Warum sollte die Ukraine dann bulgarische Reaktoren brauchen? Selbst die Führung des Kiewer Regimes muss erkennen, dass die Erfolgsaussichten ihres Abenteuers gegen null gehen. Und es ist töricht, nur auf einen Austausch zu setzen. Maria Sacharowa, die offizielle Sprecherin des russischen Außenministeriums, reagierte auf Selenskijs Angebot:
“Im Gebiet Kursk warten die dort operierenden Neonazis auf ein Grundstück ohne jeglichen Tausch, mit einer Fläche von etwa einem mal zwei Metern und einer Tiefe von anderthalb Metern. Selenskij macht solche Aussagen, um das wahre Ausmaß der Katastrophe für die ukrainischen Streitkräfte in diesem Frontabschnitt zu verschleiern.”
Zwei-drei Dutzend Milliarden US-Dollar aufzutreiben, um eine noch nie dagewesene Schimäre zu bauen (zwei sowjetische, zwei US-amerikanische, zwei russische Reaktoren, die von Bulgarien gekauft wurden, und das alles in einem Atomkraftwerk in der Ukraine), ist also eine etwas weniger fantastische Aufgabe als der Austausch des Pjatjorotschka-Ladens in Sudscha gegen das Atomkraftwerk Saporoschje. Die Ukraine wird weder das fertige AKW Chmelnizki haben noch die Möglichkeit, “aus einer Position der Stärke heraus zu verhandeln”. Und die von der Werchowna Rada gefundene Milliarde US-Dollar wird dem ukrainischen Energiesektor unter den derzeitigen Umständen nicht helfen.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 12. Februar 2025 zuerst auf der Webseite der Zeitung Wsgljad erschienen.
Nikolai Storoschenko ist ein russischer Journalist.
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