Von Susan Bonath
Deutschlands Herrschende haben Prioritäten. Während die Leitmedien Kriegspropaganda in Dauerschleife servieren, pumpt die Politik uferlos Milliarden in den Militäretat und beschert Rüstungskonzernen wie Rheinmetall lukrative Extraprofite. Die Normalbevölkerung soll dafür ihre Gürtel immer enger schnallen. Die sozialen Folgen zeigen sich auch auf deutschen Straßen: Die Obdachlosigkeit explodiert, tausende Kinder sind mittlerweile betroffen. Die Politik sieht dem gelassen zu, zuckt die Schultern, verwaltet den Wohnungsmangel und verjagt schon mal Betroffene aus dem öffentlichen Blickfeld.
16.000 Minderjährige in Berliner Notunterkünften
Eigentlich hätte diese Schlagzeile zu Beginn dieser Woche in der taz für einen medialen Aufschrei sorgen müssen: Fast 16.000 obdachlose Minderjährige lebten demzufolge im Januar allein in Berlin in Notunterkünften. Auch Eltern, Alleinerziehende und sogar Senioren landen immer häufiger auf der Straße.
Damit stellte die Gruppe der Kinder und Jugendlichen inzwischen fast ein Drittel der insgesamt rund 53.600 untergebrachten Betroffenen in der Hauptstadt, gut sieben Prozent waren über 65-jährige Senioren. Das geht aus Daten hervor, die der Berliner Senat Ende Juli auf eine Anfrage des Grünen-Abgeordneten Taylan Kurt bekanntgab. Das verdeutlicht: Längst hat Obdachlosigkeit die sogenannte “Mitte der Gesellschaft” erreicht.
Wieder neuer Höchststand bundesweit
Bundesweit registrierte die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) zuletzt 474.000 notdürftig von den Kommunen untergebrachte Menschen ohne eigene Bleibe. Erfasst wurde diese Anzahl an einem Stichtag im Sommer des 2024.
Dies sei ein “neuer Höchststand”, berichtete die BAGW. Sie warnte vor einer “sich zuspitzenden Krise”. “Spitzenreiter” bei der nominalen Obdachlosigkeit sei das einwohnerreichste Bundesland Nordrhein-Westfalen mit gut 122.000 Betroffenen. Gemessen an der Bevölkerung trifft es aber wohl Berlin noch härter.
Nur die Spitze des Eisbergs
Doch diese düsteren Zahlen sind nur die Spitze des Eisbergs. Denn darin nicht erfasst sind Asylbewerber in Sammelunterkünften sowie die vermutlich ziemlich hohe, nicht genau bezifferbare und offensichtlich wachsende Dunkelziffer: Menschen, darunter viele Kinder und Jugendliche, die bei Freunden und Bekannten unterkommen – oder direkt auf der Straße leben.
Dass wilde Obdachlosencamps in Berlin und anderen Städten zunehmen, kann jeder beobachten, der hinsieht. Viele Betroffene – vor allem EU-Bürger ohne Anspruch auf Sozialleistungen – sind dabei nirgends registriert. Wie viele Menschen in Deutschland komplett auf der Straße leben, ist also nicht bekannt. In Berlin schätzt der Senat ihre Zahl auf gut 6.000, andere Quellen tippen auf mindestens Zehntausend.
Bald 100.000 ohne Obdach in der Hauptstadt
Keine Frage, Berlin ist ein Hotspot. Wie aus einer vorhergehenden Antwort des Senats hervorgeht, hat sich die Anzahl der Menschen ohne Wohnung in Notunterkünften dort in nur drei Jahren mehr als verdoppelt. Demnach zählten die Einrichtungen in der Hauptstadt 2022 insgesamt knapp 26.000 Betroffene – heute sind es ganze 106 Prozent mehr.
Der Senat blickt düster in die Zukunft: Bis zum Ende dieses Jahrzehnts könnte die Zahl auf rund 86.000 Betroffene ansteigen, so schätzt er. Hinzu kommen tausende Flüchtlinge, die mangels Wohnungsangebots teils seit vielen Jahren in Sammelunterkünften leben. Gebraucht würden, so die Berliner Politiker, schon jetzt rund 90.000 zusätzliche bezahlbare Unterkünfte, um der Krise einigermaßen Herr zu werden, bis 2029 dann mindestens noch 25.000 weitere. Selbst das ist vermutlich drastisch unterschätzt.
Berliner Symbolpolitik
Die politischen Ambitionen, dem abzuhelfen, sind kläglich. In Berlin gibt es seit Mitte der 1990er-Jahre das Programm “Geschütztes Marktsegment“, um obdachlose und sonstige benachteiligte Menschen mit einem Dach über dem Kopf zu versorgen. Dem Ausmaß des Problems gerecht wird das nicht: Gerade 1.350 Unterkünfte pro Jahr soll die Stadt damit für Betroffene bereitstellen, die sonst kaum eine Chance auf einen Mietvertrag haben.
Angesichts der realen Zahlen, die inklusive der Dunkelziffer wohl schon jetzt an der Hunderttausend-Marke kratzen, ist das Programm somit vor allem Symbolpolitik. Das zeigt auch die Erfolgsquote, die der Senat hervorhebt. Danach vermittelte die Stadt “mehr als 30.000 Haushalten eine Wohnung” – und zwar seit 1993 und ohne Angaben zur Nachhaltigkeit.
Privatgeschäft mit der Verknappung
Überdies gibt es neben bloßen Winternotplätzen noch das eine oder andere Miniprogramm, in Berlin zum Beispiel “Housing first“. Das ist ein in den USA entwickeltes Konzept, bei dem es darum geht, den Menschen zuerst eine Wohnung zu geben und dann bei Problemen zu helfen, wie Drogensucht und Arbeitslosigkeit. Doch seit 2018 wurden damit in Berlin weniger als 250 Wohnungen belegt.
Mit dem Neubau sieht es ohnehin mau aus. Das liegt nicht nur an der Sparwut der deutschen Politik im sozialen Bereich, damit der Rüstungsetat und die Profite der Waffenschmieden wachsen können. Ein Grund ist auch die umfassende Privatisierung einst kommunaler Wohnungsgesellschaften. Die großen Immobilienkonzerne haben wenig Anreiz für den Neubau: Je geringer ihr Angebot, desto höher die Mieten. Wozu Geld in neue Häuser und Sanierungen pumpen, wenn man auch so reich werden kann?
Vertreiben statt unterbringen
So setzen die kommunalen “Fürsten” weiter auf Gewalt statt auf strukturelle Problemlösung. Wird der Anblick des Elends inmitten von Wohlstand zu nervig für die “gute Gesellschaft”, geht’s ans Vertreiben. In Berlin räumen Polizei und Ordnungsamt fast schon aus Gewohnheit immer neue Obdachlosencamps. In Ludwigshafen geschah es mitten im Winter genauso. Auch in Ulm rückten kürzlich Vertreiber an. Doch irgendwo müssen die Leute bleiben. Ohne Angebot entstehen eben neue Slums.
Langsam aber sicher breiten sich dann wohl die Zustände in den USA auch bis nach Deutschland aus. Dort hat Präsident Donald Trump einen ganz ähnlichen Plan: Auch er will die Obdachlosen vertreiben, jedenfalls zunächst aus der US-Hauptstadt Washington, D. C. – wohin, das sagt er nicht. Nur eins ist sicher: In Luft auflösen werden sie sich nicht, weder in Deutschland noch in Amerika.
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