Von Wladislaw Sankin
Als ich vor zwei Tagen den Spiegel-Longread über den Rauswurf des einst gefeierten Musikers und Kulturmanagers Justus Frantz zu Ende las, wusste ich schon, wovon mein nächster Artikel handeln wird. Nur war nicht ganz klar, was das eigentliche Ereignis sein sollte, von dem ich berichten würde: der skandalöse Vorfall selbst oder das, was die Hamburger Journaille daraus machte.
In der kleinen Fachwelt der Klassik war das schon längst bekannt: Justus Frantz, Pianist, Dirigent und Philanthrop, bekommt keine Festival-Auftritte in ganz Schleswig-Holstein mehr, auch eine Geburtsgala zu seinem achtzigsten Geburtstag wird es nicht mehr geben. Der Grund: Er tritt in Russland auf, ist dort mit dem “toxischen” Stardirigenten Waleri Gergiew befreundet und überhaupt, politisch nicht mehr tragbar, weil er schon im Jahre 2014 die “Annexion” der Krim durch Russland mit dem sowjetischen “Unrecht” rechtfertigte und Putin für einen “normalen” Sterblichen hielt.
Nun machte der Spiegel daraus eine Story und trug damit die Nachricht in die breite Öffentlichkeit. Formal haben die Redakteure journalistische Grundsätze beachtet und brachten sie erst dann, als es ihnen gelungen war, Justus Frantz in seinem Arbeitszimmer am Klavier persönlich zu treffen und seine Meinung zu den Vorwürfen einzuholen. Doch, der Mann, dessen Verdienste vor der deutschen und internationalen Musiköffentlichkeit eigentlich unermesslich sind, wird vor dem Leser auf süffisante Weise vorgeführt. Schon der Titel und Teaser im Beitrag lassen keine Zweifel, auf wessen Seite sich der Spiegel sieht:
“Die falschen Töne des Justus Frantz
Ein Mann versteht die Welt nicht mehr: Der Dirigent und Musiker Justus Frantz wurde von dem Festival ausgeschlossen, das er einst gründete. Besuch bei einem Grenzgänger, den Kritiker für eine Marionette Russlands halten.”
Laut dem Intendanten des Schleswig-Holstein Musik Festivals (SHMF), Christian Kuhn, sei sein Engagement in Russland wohl einer der Gründe, die zur Trennung führten. Im Jahr 1986 gründete Frantz das Festival und machte aus dem schleswigschen Flensburg einen Ort mit Weltrang. Das merken auch die Redakteure, die auf frühere Verdienste des Mannes hinweisen:
“In seinen besten Zeiten stand Frantz zwischen dem Papst und Nelson Mandela. Er kannte die Großen, die Wichtigen, er war ein Makler, ein Macher, und die Welt war seine Bühne, die er mit großem Selbst- und Sendungsbewusstsein bespielte. Seine ‘Philharmonie der Nationen’, ein Orchester, in dem Syrer mit Israelis, Serben mit Slowenen, Chinesen mit Indern für den Weltfrieden musizierten, trat bei der Uno in New York auf, im Berliner Reichstag.”
Die Weltgrößen wie Leonard Bernstein waren bei Frantz in Flensburg zu Gast und Millionenpublikum brachte er zehn Jahre in der Sendung “Achtung Klassik!” die Liebe zur klassischen Musik bei, was ihm auch zahlreiche deutsche Fernsehpreise einbrachte. Nun schmückten sie das Regal und Frantz, der “Charmeur” und “Menschenfänger” würde stundenlang Anekdote aus seinem ereignisreichen Leben erzählen, merkt der Spiegel ebenso an. Doch das tun die Besucher seines Arbeitszimmers nicht aus Respekt oder Bewunderung, sondern um den prominenten Musiker im nächsten Satz mit noch mehr Genugtuung fallen zu lassen. Die Tiefe des Falls macht eben das Drama!
“Mag sich Frantz als Wanderer zwischen den Welten sehen, der zwischen die Fronten geraten ist; für seine Gegner steht er nicht zwischen den Fronten, sondern eindeutig auf der falschen Seite. Bei den Russen. Er habe sich von Russland einspannen lassen und sei längst nicht mehr Macher, nur noch Marionette. In der Kulturszene wird gelästert, dass bei Frantz Frieden und Finanzen zueinandergefunden hätten. Offenbar sei das Geld knapp. Nun diene er sich halt ohne jede Scham einem Regime an, das Kunst als Kulisse für Normalität missbrauche.”
Besonders übel nehmen ihm die Medien und ehemalige Freunde aus der Musikwelt die Teilnahme in der Klavier-Jury des Moskauer Tschaikowski-Wettbewerbs im Sommer. Der Wettbewerb, früher einer der prestigeträchtigsten weltweit, sei jetzt aus dem Register der internationalen Musikwettbewerbe ausgeschlossen, merkt der Spiegel als Begründung für “jede Menge Prügel in der Öffentlichkeit” an. “Shame on you. Sie machen sich zum Hündchen von Putin und seinen Kulturchargen”, wird ebenso gern zitiert.
Auch die Freundschaft mit dem “ergebenen Putin-Lakai” Waleri Gergiew sei sträflich. Der Spiegel macht sich die Mühe aufzuzählen, bei welchen Musikhäusern er als Leiter oder Gast-Dirigent rausflog: bei der Münchner Philharmoniker, beim Festspielhaus Baden-Baden, an der Mailänder Scala, in Rotterdam, Luzern, in Verbier. Es gibt inzwischen “kaum einen, der noch etwas mit Gergiew zu tun haben wollte.”
Auch das natürlich zu Recht! Die Gegenfrage, ob die zur Schau gestellte bedingungslose Solidarität mit der faschistischen Ukraine und scharfe antirussische Töne bei so vielen bekannten deutschen Musik- und Kulturmanagern sie nicht zu Lakaien der transatlantischen Machteliten machen, stellt sich der Spiegel nicht. So viel Selbstreflexion ist da nicht zu erwarten. Auch das Wort “Cancel Culture” fällt im Artikel kein einziges Mal.
Stattdessen wird spekuliert, dass Frantz in Russland “gut im Geschäft” sei, worüber der Präsident des Deutschen Komponist:innenverbandes (Rechtschreibung wie im Original), Moritz Eggert, auf Facebook spottete:
“Justus Frantz, Frustus Schwantz/Wie groß ist Dein Frust/Dass Du nach Moskau musst?”
So wird aus Schadenfreude Tugend beim Spiegel. Niedere Triebe mit dem gerechten Zorn über den Abtrünnigen veredelt. Und was sagt der Dirigent selbst dazu? Ja, er versucht seine Position mit dem Hinweis darauf zu begründen, dass die Kunst als Brücke zwischen den Nationen über Politik erhaben sein sollte. Aber der Spiegel drängt ihn in die Defensive und fragt ihn aus über Nawalny, das Leiden der Ukrainer und Diktator Putin. Frantz sitze in “Elfenbeinturm”, sei kindisch und naiv. Ohne Einordnung und Framing darf er in Deutschland nicht mehr zitiert werden.
Auf der Suche nach ungefilterten Zitaten werfen wir einmal einen Blick in die russischen Medien. Dort findet sich ein Interview mit dem Musiker vom November 2021, wo er unter anderem sagt:
“Was jetzt in Deutschland passiert, ist sehr traurig: dieses ganze Gerede über Sanktionen und so weiter. Musik ist Kunst, und die sollte sich nicht nach der Politik richten. Deshalb bin ich auf die Krim gefahren. Und ich war sehr glücklich. Das Publikum dort ist erstaunlich – man merkt, dass westliche Künstler nicht oft dorthin kommen, und die Leute sind den Musikern wirklich dankbar.”
Die Kulturdiplomatie zwischen Deutschland und Russland ist tot. Im europäischen Vergleich setzen gerade die Deutschen die Sanktionen gegen Kulturschaffende besonders vehement um. Auch wenn jemand formal einreisen darf, steht die ganze Atmosphäre des Austausches unter Sanktion. Musiker schaffen es nur vereinzelt nach Deutschland und das auch erst dann, wenn sie zufällig das Visum eines anderen EU-Landes besitzen. Kollektive können kaum mehr anreisen und die Angst “gecancelt” zu werden dringt immer tiefer ein. Durch Nichtanerkennung von Musikwettbewerben und sonstige Ausschlusspraktiken wird auch versucht, dem weltweiten Ansehen der russischen Musikkultur und der russischen Musikausbildung insgesamt zu schaden.
Irgendwie erinnert dieses Vorgehen an den nazistischen Kunstraub zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs. Bis heute blieben Hunderte wertvolle alte Ikonen aus russischen Kirchen oder das berühmte Bernsteinzimmer verschollen. Wenn einer Nation geschadet werden soll, wird ihr kulturelles Erbe gestohlen, denn die Kultur wird im nationalen Selbstbewusstsein stärker verankert als wechselhafte Ideologie und Politik. Es ist sehr bedauernswert, dass sowohl viele Kollegen des musikalischen Brückenbauers Justus Frantz als auch Musikjournalisten bei diesem Trauerspiel mitmachen. Anstatt den Mauerbau 2.0 zumindest infrage zu stellen, werden sie nicht müde, immer neue “Putin-Netzwerke” in der Musikwelt zu “entlarven”. So sieht die Arroganz der Macht aus, die Journalisten, Wissenschaftler und Kulturschaffende in ihrem Spott oder Sanktionseifer gegenüber Abweichlern an den Tag legen. Statt kritische Mahner zu sein, degradieren sie immer mehr zum Vortrupp der herrschenden Machteliten, die ein Interesse daran haben, auch Kulturkontakte nach Russland zu erdrosseln.
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