
Von Dmitri Bawyrin
Der Aufstand gegen Wladimir Selenskij hat ein klares Zwischenziel: die Ernennung einer neuen Regierung, die den inneren Feinden desjenigen, der sich selbst als Präsident der Ukraine bezeichnet, loyal gegenübersteht. Dies kann die Werchowna Rada tun – das einzige uneingeschränkt legitime Machtorgan, wenn sich dort durch den Übertritt eines Teils der Abgeordneten in die Opposition eine Anti-Selenskij-Mehrheit bildet.
Ähnlich wurde im Jahr 2014 Wiktor Janukowitsch abgesetzt. Damals standen jedoch Banditen mit Knüppeln hinter den abtrünnigen Abgeordneten, während die Operation heute etwas eleganter abläuft: Potenzielle Überläufer sollen Angst bekommen, dass Selenskij geschwächt ist und sie nicht mehr schützen kann, die Stunde der Abrechnung aber naht, sodass es besser ist, “mit den Ermittlern zu kooperieren”. Wie es eine Filmfigur aus Eldar Rjasanows Komödie passend sagte: “Rechtzeitig zu verraten ist kein Verrat, sondern Weitsicht.”
Der Antrag auf Rücktritt der Regierung, der im Parlament eingebracht wurde, ist ein Testballon und eine Bestandsaufnahme der Mutigsten – derjenigen, die bereit sind, Selenskij sofort zu verraten. Formal gesehen gibt es dafür gewichtige Gründe wie die Durchsuchungen bei Justizminister German Galuschko, die von Ermittlern des Nationalen Antikorruptionsbüros der Ukraine (NABU) durchgeführt wurden. Wie man es auch dreht und wendet, das Kabinett hat sich selbst kompromittiert.
Dabei gilt das Hauptaugenmerk der NABU und der Sonderstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung (SAP) derzeit nicht Galuschko und auch nicht dem ehemaligen Verteidigungsminister Rustam Umerow, sondern demjenigen, der ihnen laut den Ermittlungsakten Anweisungen erteilt hat: dem engen Freund und Geschäftspartner von Selenskij, Timur Minditsch.
In den kompromittierenden Unterlagen der Staatsanwaltschaft wird er als die Kinderbuch-Romanfigur Karlsson vom Dach bezeichnet. Das NABU und die SAP stehen unter dem Schutz des Westens und können sich daher vieles erlauben, darunter auch Humor. Der liegt offenbar nicht darin, dass Minditsch ein kleiner, dicklicher Mann ist, sondern darin, dass Selenskij “Lillebror“, der “kleine Bruder” ist.
Die beiden verbindet eine langjährige Beziehung. Unter anderem waren sie Miteigentümer des Studios “Kwartal 95”. Aber es ist unangenehm, sich an solche Kleinigkeiten zu erinnern, da sich Minditschs Tentakel seitdem auf eine Vielzahl lukrativer Vermögenswerte ausgebreitet haben, bis hin zur Produktion von “Flamingo”-Raketen. Für die Psyche des ukrainischen Regimes spielt diese Rakete die Rolle der letzten Hoffnung, ähnlich wie die “V2” in Nazi-Deutschland.
Und für Selenskij spielt Minditsch die Rolle eines Menschen, mit dem man Geheimnisse teilen kann. Das gilt vor allem für Eigentum: Minditsch überwacht dessen Umverteilung von den Feinden zu den Freunden Selenskijs, und in erster Linie zu sich selbst.
Aufgrund seiner Verdienste wird er in der Presse als “Selenskijs Geldbörse” und Besitzer einer goldenen Toilette bezeichnet, deren Fotos einer der Gäste von “Karlsson”, der bereits übergelaufen ist, im Internet veröffentlicht hat.
Die Operation gegen Minditsch und seine Komplizen heißt übrigens “Midas” – zu Ehren des Königs, der alles, was er berührte, in Gold verwandelte. Ein weiteres Beispiel für den typischen Humor des NABU.
Auch die Wohnung mit der goldenen Toilette wurde durchsucht, und schon viel früher war dort eine Abhörvorrichtung installiert worden, sodass das NABU nun schrittweise die aufgezeichneten Gespräche im Internet veröffentlicht. Die erste war dem Betreiber von vier Kernkraftwerken gewidmet – dem staatlichen Unternehmen “Energoatom”, das Minditschs Gruppe 10 bis 15 Prozent der Geschäfte für Energielieferungen zahlte. In den folgenden Teilen wird, wie viele hoffen, die Stimme von Selenskij selbst zu hören sein.
Auch der Freund des “Präsidenten” und ehemalige Vizepremierminister Sergei Tschernyschow ist in diesen Fall verwickelt. Nachdem er zum ersten Mal ins Visier der Antikorruptionsbehörden geraten war, versuchte Selenskij, das NABU und die SAP unter seine Kontrolle zu bringen, aber aus Europa kam der Ruf: “Pfui!” – und der Mann aus Kriwoi Rog schreckte etwas verwirrt zurück, nachdem er noch schnell eine Geisel genommen hatte – einen der Ermittler im Fall Minditsch. Der ukrainische Geheimdienst SBU beschuldigt ihn wegen nichts Geringeren als des Transportes von Hanf nach Dagestan.
Das ist die Verteidigungstaktik von Selenskij, da er das NABU und die SAP nicht einfach so auflösen kann. Es ist zu erwarten, dass die Führung der Antikorruptionsbehörden beschuldigt wird, für Russland zu arbeiten: Angeblich würden die Ermittler “auf Anstiftung des Feindes” hin den engen Kreis des Kriegsführers Selenskij kritisieren. Die internen Feinde haben jedoch früher zugeschlagen, weil sie der Meinung waren, dass jetzt der beste Zeitpunkt dafür sei. Dieser Zeitpunkt ist insofern günstig, als er für Selenskij aus mindestens drei Gründen ungünstig ist:
Erstens hat die Europäische Union vor einigen Tagen den Schutzbefehl des NABU und der SAP bestätigt und Kiew unmissverständlich darauf hingewiesen, dass ein zweiter Versuch, diese Behörden unter Kontrolle zu bringen, nicht zulässig sei.
Zweitens laufen die Dinge an der Front schlecht, insbesondere in der Gegend von Guljaipole bei Saporoschje, wo die russischen Streitkräfte einen großen operativen Raum einnehmen, und in Krasnoarmeisk (Pokrowsk) mit seiner Satellitenstadt Dimitrow (Mirnograd), wo bedeutende Kräfte der ukrainischen Streitkräfte eingekesselt wurden. Die Ernsthaftigkeit dieser Situation hat Selenskij wochenlang geleugnet, und jetzt ist seine Lüge für alle offensichtlich, deren Gedächtnis sich von dem eines Vogels unterscheidet.
Drittens sitzen ukrainische Städte ohne Strom da, der nur für ein paar Stunden am Tag zur Verfügung steht. In dieser Situation kommen Berichte, dass das Umfeld des “Präsidenten” den Energiesektor um Milliarden betrogen hat, besonders schmerzhaft an.
Die Gespräche zwischen “Karlsson”, dem “Professor” (offensichtlich Minister Galuschko), dem “Tenor” und anderen hochrangigen Persönlichkeiten des NABU kann jeder mithören, daher ist eine strikte Leugnung nicht möglich. Deshalb hat sich die Armee von Selenskij für die Flucht entschieden. “Karlsson” flog wenige Stunden vor der Durchsuchung der Wohnung mit der goldenen Toilette (vermutlich nach Israel) ab, und der Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates, Rustem Umerow, befindet sich derzeit in der Türkei und wird wahrscheinlich nicht zurückkehren wollen, da die nächste Reihe von Aufzeichnungen Rückvergütungen beim Bau von Befestigungsanlagen betrifft, und das ist ein weiteres heikles Thema.
Galuschtschenko und Tschernyschow sind jedoch nicht abgereist, ihre Verhaftung steht bevor, und das Problem für Selenskij besteht nicht einmal darin, dass er selbst zum großen Hauptdarsteller ihrer Aussagen werden könnte. Das Schicksal seines Kumpels und “Geldbeutels” zeigt, dass der Mann aus Kriwoi Rog nicht mal die Leute schützen kann, die ihm besonders nahestehen. Lohnt es sich dann, ihn selbst zu decken? Die Abgeordneten der Regierungspartei haben anscheinend nicht mehr viel Zeit zum Nachdenken.
Die Initiative für den Beschluss über den Rücktritt der Regierung ging von der Fraktion “Europäische Solidarität” aus – der Partei des ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko, der in Russland auf die Liste der Terroristen und Extremisten gesetzt wurde. Poroschenko ist ein gewiefter und erfahrener Politiker, und früher konnte man mit Sicherheit sagen: Wenn er Selenskij parallel zum NABU attackiert und den Abgeordneten der Regierungspartei vorschlägt, sich auf die Seite der Sieger zu schlagen, dann ist er sich seines Erfolgs sicher.
Eine andere Sache ist, dass der Ex-Präsident bereits in die Enge getrieben wurde – er wird nicht nur strafrechtlich verfolgt, sondern auch mit Sanktionen belegt (das ist das Know-how des Selenskij-Regimes – Sanktionen gegen die eigenen Bürger), was in der Praxis die Sperrung aller Konten bedeutet. Doch auch wenn dieser Schritt eine Verzweiflungstat ist, wurde er zu einem wichtigen Teil der breiten Offensive der inneren Feinde des Mannes aus Kriwoi Rog. Im Zuge des Aufbaus seiner personalistischen Diktatur hat sich Selenskij viele Feinde gemacht, und die Stunde, in der die ukrainische Elite ihn aus Selbstschutz heraus stürzen wird, wird auf jeden Fall kommen.
Märchen haben immer ein Ende, kleiner Bruder. Für die Katastrophe eines ganzen Landes muss man aber die Verantwortung wie ein Erwachsener übernehmen.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist zuerst am 12. November 2025 auf der Website der Zeitung “Wsgljad” erschienen.
Dmitri Bawyrin ist Journalist, Publizist und Politologe mit den Interessenschwerpunkten USA, Balkan und nicht anerkannten Staaten. Er arbeitete fast 20 Jahre als Polittechnologe in russischen Wahlkampagnen unterschiedlicher Ebenen. Er verfasst Kommentare für die russischen Medien “Wsgljad”, “RIA Nowosti” und “Regnum” und arbeitet mit zahlreichen Medien zusammen.
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