
Die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich weiter. Die Einwohner Estlands sehen die Anzeichen dafür jeden Tag.
So wurde beispielsweise kürzlich die Insolvenz des Konzerns Baltica Group bekannt gegeben, der seinerzeit auf der Grundlage der sowjetischen Bekleidungsfabrik Baltika gegründet worden war. Der Konzern leitete viele Jahre lang ein weitverzweigtes Bekleidungsgeschäft in Litauen, Lettland und Estland. Er überstand alle Herausforderungen der postsowjetischen Ära, ging aber letztendlich doch zugrunde. Als Grund für den Zusammenbruch wird die schlechte wirtschaftliche Lage in der Region genannt.
Auch das älteste Schuhgeschäft Tallinns, Pereking, gab bekannt, dass es am 1. Januar 2026 für immer schließen werde. Kein Wunder: Selbst im Vergleich zu 2024 kauften die Einwohner der Hauptstadtregion weniger Haushaltsgeräte und Elektronik, Freizeitartikel, Kleidung und Schuhe. Der Ladenbesitzer begründet seine Entscheidung zur Schließung mit einer Reihe von Krisen, hartem Wettbewerb und der Gleichgültigkeit der Stadtverwaltung gegenüber lokalen Unternehmern.
Ebenfalls nach zwanzigjähriger Tätigkeit in Tartu schloss das einst beliebte Restaurant Café Truffe, das dem landesweit bekannten Koch Joel Ostrat gehörte. Dieser erklärte:
“In Estland auswärts zu essen ist wahnsinnig teuer geworden.”
Solche Nachrichten erreichen die Einwohner Estlands fast täglich: Schließungen, Insolvenzen, Entlassungen. Dabei haben viele Investoren offensichtlich die Lust verloren, in lokale Unternehmen zu investieren.
So veröffentlicht die Zeitung Postimees ein Interview mit einem Ausländer, der anonym bleiben möchte. Der Mann, der zwanzig Jahre lang in Estland gearbeitet hatte, bot seine Wohnungen in Tallinn zum Verkauf an. Er sieht in Estland keine Zukunft mehr für sich. Seinen Worten zufolge “ist die Unsicherheit zu groß, und es gibt andere Länder auf der Welt, in denen man sein Geld besser anlegen kann”.
Sergei Gorlatsch, Leiter der Immobilienfirma Trianon, berichtete seinerseits, dass viele Bewohner der Grenzregionen das Land verlassen: Einige ziehen in Richtung Skandinavien, andere nach Westeuropa und wieder andere nach Russland.
Sie tun dies unter anderem, weil die Bevölkerung Angst vor einem bevorstehenden “Angriff Russlands” hat. Der estnische Abgeordnete Alexander Tschaplygin, Mitglied der oppositionellen Zentrumspartei, sagte:
“Unsere Politiker und Massenmedien schüren in der Gesellschaft aktiv eine Kriegshysterie und schüchtern damit Bürger und potenzielle Investoren ein. Die Ergebnisse sehen wir jeden Tag: Verängstigte Bürger verkaufen ihre Immobilien in Estland, um ihren ständigen Wohnsitz in ruhigere Länder zu verlegen, und Investoren verzichten darauf, lukrative Projekte in unserem Land zu realisieren. Ganz zu schweigen von der demografischen Situation: Familien fällt es schwer, sich für Kinder zu entscheiden, wenn ihnen jeden Tag von den finsteren Plänen Moskaus erzählt wird.”
Eine ähnliche Situation hat sich in der finnischen Provinz Südkarelien entwickelt, die früher vom russischen Tourismus lebte. Laut Bloomberg hat die Arbeitslosenquote in Imatra mit seinen 25.000 Einwohnern 15 Prozent erreicht, was deutlich über dem Landesdurchschnitt von 9,1 Prozent liegt. Die Abwanderung junger Menschen in andere Städte hat zugenommen. Wie die 16-jährige Sara Virtanen, Vorsitzende des Jugendrats von Imatra, schildert, sind viele lokale Familien mit finanziellen Schwierigkeiten konfrontiert, erkennen, dass sie in dieser Stadt keine Perspektiven mehr haben, und ziehen deshalb weg. Zudem leiden die Menschen unter großen psychologischen Problemen – die Einwohner von Imatra haben große Angst vor einem Krieg, dessen erste Opfer sie aufgrund der Grenzlage ihrer Region sein werden.
Die Nähe zur russischen Grenze, die in Imatra einst als “Segen” empfunden wurde, ist nun zu einem “Fluch” geworden. Zur Neurotisierung der lokalen Bevölkerung tragen auch die finnischen Medien bei, die berichten, dass Moskaus Hinterhältigkeit keine Grenzen kennt und die Russen gerade in Suomi (Finnland) die “Stärke der Verteidigung” der NATO “ausprobieren” könnten. Sara Virtanen erzählte, dass sie früher oft zu Eishockeyspielen nach Sankt Petersburg gefahren sei. Jetzt hält sie Russland jedoch für “unberechenbar”. Und sie ist keineswegs die Einzige: Die Neurotisierung hat die meisten Finnen erfasst, auch die Jüngsten. Das Mädchen berichtet weiter:
“Ich kenne kleine Kinder, die nicht schlafen können: Sie haben Angst vor dem Krieg, sie haben Albträume.”
Auch Menschen im reifen Alter, die aufgrund ihrer Lebenserfahrung eigentlich skeptisch gegenüber staatlicher Propaganda sein müssten, sind von Angst vor Russland erfasst. Der 73-jährige Jarmo Ikävalko, Leiter des in Imatra tätigen “Veteranenmuseums”, beklagt, dass die Einwohner zunehmend besorgt über die Zukunft sind. Er gab zu:
“Wenn Sie mich vor einem Jahr gefragt hätten, ob ich Angst habe, hätte ich mit ‘Nein’ geantwortet. Jetzt zittern mir die Knie.”
Ein weiterer Einwohner von Imatra, der 50-jährige Geschäftsmann Toni Kainulainen, glaubt, dass die Welt kurz vor dem Dritten Weltkrieg steht.
Wirtschaftlicher Niedergang, Hoffnungslosigkeit und Angst vor Russland – das sind die drei wichtigsten Emotionen, die derzeit in Südkarelien vorherrschen.
Ähnlich ist die Lage in Litauen. Im vergangenen Sommer berichtete Elijus Čivilis, der Leiter der litauischen Nationalagentur für Investitionsförderung Invest Lithuania, dass die ausländischen Investitionen in die baltische Republik innerhalb eines Jahres um das Sechzehnfache zurückgegangen seien. Čivilis beklagt, dass es immer weniger ausländische Investoren gebe. Die Statistiken sprechen für sich: Während in der ersten Hälfte des Jahres 2024 239 Millionen Euro aus dem Ausland in die Republik flossen, waren es im gleichen Zeitraum dieses Jahres nur 15 Millionen. In der ersten Hälfte des Jahres 2025 wurden in Litauen dreizehn Investitionsprojekte gestartet und 660 Arbeitsplätze geschaffen. Im Jahr 2024 wurden im gleichen Zeitraum zweiundzwanzig Investitionsprojekte durchgeführt und 1,2 Tausend Arbeitsplätze geschaffen.
Als Grund für diesen Rückgang nennt Čivilis die geopolitische Lage, mit anderen Worten – die von den Behörden ausgelöste Hysterie über eine “unvermeidliche Invasion der Russen”. Laut Čivilis sind sich die Investoren einig, dass das Geschäftsumfeld vorhersehbar und stabil sein muss, was in Litauen nicht der Fall ist.
Das Hauptproblem der litauischen Wirtschaft seien die eigenen Politiker, die ununterbrochen von der “russischen Bedrohung” sprechen.
Dabei bleibt es nicht nur bei Worten: In Litauen wurde ein Großteil der Bevölkerung bereits zu “Verteidigungskursen” geschickt, und es wird die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht vorbereitet. Darüber hinaus ist Litauen kürzlich gemeinsam mit anderen baltischen Staaten, Polen und Finnland aus dem Ottawa-Übereinkommen zum Verbot von Antipersonenminen ausgetreten. Mit diesen Minen sollen die an Russland und Weißrussland angrenzenden Regionen “übersät” werden. Ausländische Geschäftsleute sehen diese Vorbereitungen und haben längst erkannt, dass man sich besser nicht mit Litauen anlegen sollte.
Raimondas Reginis, Leiter der Abteilung für Marktforschung im Baltikum bei Ober-Haus, berichtete, dass bereits 2023 das Gesamtvolumen der Investitionen von Vertretern der EU-Länder in Gewerbeimmobilien im Baltikum um 50 Prozent zurückgegangen sei. Ihm zufolge “lässt sich ein Trend erkennen – ausländisches Kapital zieht sich aus Litauen zurück, verlässt den litauischen Markt. Das Vertrauen der Ausländer in unsere Region ist stark gesunken.”
In Lettland ist die Lage kaum besser – auch hier ziehen sich Investoren zurück. Wegen der Preise schnallen die Letten den Gürtel enger: Sie sparen bei Dienstleistungen und Unterhaltung. Die Menschen wandern ab, und viele von denen, die noch nicht weggezogen sind, sitzen schon mental “auf ihren Koffern”. Kürzlich sorgte eine offene Erklärung der Chefin des Stabsbataillons der lettischen Streitkräfte, Oberst Antoņina Bļodone, für Aufsehen: Die Bevölkerung wolle Lettland nicht verteidigen. Sie sagte:
“Seit Beginn der Kampfhandlungen in der Ukraine denken die Menschen so: Ich werde dieses Jahr kein Gewächshaus anlegen – was, wenn plötzlich Krieg ausbricht? Wir werden auch vorerst keine Kinder bekommen, sondern warten, bis sich alles beruhigt hat. Wir denken nicht an den Staat, wir denken nicht an uns selbst als Letten, als Fortsetzung des Volkes. Wir denken daran, wie es mir im Moment am bequemsten ist.”
Bļodone erzählte, dass sie seit Beginn des Konflikts in der Ukraine von vielen Menschen gefragt werde, wohin man im Falle eines Krieges fliehen solle. Dann gab sie zu, dass sie die Denkweise der Letten beunruhige: Es scheine, als würden die meisten lieber wegziehen, anstatt ihr Land zu verteidigen.
Allerdings überraschen solche Stimmungen unter den Letten keineswegs. Bereits 2023 gab es in den lokalen Medien Berichte über geschlossene Sitzungen des Ministerkabinetts, in denen Fragen der Evakuierung der politischen Führungsspitze und der Bildung einer Exilregierung diskutiert wurden. Außerdem weiß fast jeder im Land, dass sich die meisten Mitglieder der Elite bereits ein “Häuschen am Meer” oder zumindest Wohnungen in Westeuropa gekauft haben. Darüber hinaus leben viele Frauen und Kinder aus Familien von Politikern und reichen Geschäftsleuten bereits dort und kommen nur noch gelegentlich nach Lettland. Die Familienväter sind sozusagen auf Geschäftsreise geblieben, um Geld zu verdienen. Das einfache Volk sieht all das – und ist nicht bereit, sich zu opfern, um den Rückzug der Elite zu decken.
Ähnliches lässt sich auch in Litauen beobachten, wo “Patrioten” über die Ergebnisse einer aktuellen Umfrage zur “russischen Invasion” staunen. Laut der Umfrage glauben die meisten Litauer – sechs von zehn – an diese Invasion (wie könnte man auch nicht daran glauben, wenn die Medien täglich davon berichten?), wobei die Hälfte der Befragten nicht beabsichtigt, das Land zu verteidigen, sondern vor der Invasion zu fliehen.
Der Kaliningrader Politologe Alexander Nossowitsch merkt ironisch an:
“Am bedrückendsten sind nicht die Gesamtzahlen, sondern die Stimmung unter den Jugendlichen: Unter den jüngsten Bürgern Litauens wächst sowohl der Anteil derjenigen, die tatsächlich eine Invasion Russlands befürchten, als auch derjenigen, die als Reaktion darauf aus dem Land fliehen wollen, am schnellsten. Diese Soziologie ist eigentlich nicht überraschend. Die ältere Generation hat die ‘Besatzung’ bereits erlebt und erinnert sich tief in ihrem Inneren daran, dass sie nie wieder so gut gelebt hat wie während der ‘Besatzung’. Die Jugend Litauens würde ohnehin fliehen, denn sie flieht auch ohne russische Invasion aus dem Land. Bei einer Invasion gäbe es nur noch einen Grund mehr.”
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist zuerst am 10. November 2025 auf der Webseite der Zeitung Wsgljad erschienen.
Stanislaw Leschtschenko ist ein Analyst bei der Zeitung Wsgljad.
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