Von Timofei Borodatschow
Wie wir sehen, begrüßt das heutige Europa jegliche Entscheidungen aus Washington, die die Europäer in den Hintergrund drängen und ihnen helfen, keine Verantwortung für die Lage auf dem Kontinent zu übernehmen. Genau so können Brüssels eilige Erklärungen, die Ergebnisse des jüngsten Treffens zwischen Vertretern der USA und des Kiewer Regimes zu unterstützen, interpretiert werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass die taktischen Widersprüche, die zwischen der neuen US-Administration und ihren europäischen Verbündeten entstanden sind, eine größere Abkühlung in den gegenseitigen Beziehungen einleiten, bleibt recht gering.
Europas Albtraum, dass die USA die Verantwortung für die Konfrontation mit Russland tatsächlich Europa aufgebürdet hätten, ist vorübergehend in den Hintergrund zurückgetreten. Heute besteht in Berlin, Paris, London und Brüssel ein Grund zur Freude: Die bisherigen Umstände erfordern von ihnen nicht einmal einen Schein von Selbstständigkeit. Im Grunde war es das, was man dort am meisten wollte. Schließlich denkt niemand ernsthaft über die Erfüllung der Versprechen nach, Europa in ein Militärlager zu verwandeln, die so hochtrabend in der vergangenen Woche angekündigt wurden. Dazu fehlt es Europa sowohl an Geld als auch an demografischen Ressourcen.
Bisher können wir nur raten, wie die Ergebnisse der von den USA eingeleiteten Verhandlungen zur Ukraine-Frage ausfallen. Doch in den vergangenen Wochen wurde offensichtlich, dass selbst die Verhandlungen Europa bereits vor einige schwierige Fragen gestellt haben. Und diese Fragen sind ernsthafter als das Schicksal von Klienten der USA und der EU in Kiew. Längerfristig könnten sie die ganze Strategie von Beziehungen zwischen Europa und Amerika betreffen.
Die Einigkeit Europas und Amerikas in den Hauptfragen der Weltpolitik macht es möglich, von der Existenz eines Kollektiven Westens zu sprechen – und gleichzeitig von einer Spaltung der Welt in eine kleine Gruppe von Ländern, die als geschlossenes Ganzes agieren, und den Rest. Wenn wir annehmen, dass die Einigkeit des Kollektiven Westens ein vorübergehendes Phänomen war, stellt sich für Russland die Frage: Ist es notwendig, die Spaltung zwischen den Vereinigten Staaten und Europa irgendwie zu unterstützen?
Von einer Wahrscheinlichkeit des Auseinanderdriftens von Europa und Amerika zu sprechen, wird angesichts der inneren Wandlungsprozesse möglich, die in den USA – der am schwersten bewaffneten und wirtschaftlich stärksten Macht des Planeten – zunehmen. Nachdem die internationalen Positionen dieses Staats ins Wanken geraten sind und die innere Ordnung vor Herausforderungen gestellt wurde, setzen die regierenden Eliten auf eine Erneuerung. Donald Trumps Wahl zum Präsidenten und der Regierungsbeginn eines neuen Teams in Washington sind zwar noch keine entscheidende Abkehr vom bisherigen Weg, allerdings ein Anfang des Wandels.
In den kommenden Jahren werden wir sehen, wie ernsthaft der unternommene Versuch sein wird, die Gesellschaft und das politische System der USA zu erneuern. Der allgemeine Mangel in der modernen Welt an gegenseitigem Wissen voneinander – und Russland und die USA sind dabei keine Ausnahmen – verhindert es, die Ergebnisse dieser Prozesse mit hinreichender Klarheit vorauszusagen. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Verhalten der USA ändert, ist größer als je zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg.
In erster Linie geschieht dies, weil die parasitäre Existenz der USA ernsthaft bedroht wird. Erstens ist es eine innenpolitische Krise, die durch die Migrationslage am klarsten verdeutlicht wird. Jahrzehntelang lebten die USA durch die Heranziehung von billigen Arbeitskräften aus Lateinamerika, das sie absichtlich in einem halb lebendigen Zustand hielten. Nun wurde die Migrationsfrage zum Gegenstand lebhafter innenpolitischer Diskussionen. Zweitens eröffnete die Globalisierung neue Möglichkeiten für zahlreiche Staaten auf der Welt, die kolonialen Beziehungen zum Westen und dessen Hauptmacht, den USA, nicht mehr aufrechterhalten zu wollen.
Schließlich zeigt die Konfrontation mit Russland über die Ukraine die Grenzen der Kraft der USA auf. Ob sie es anerkennen oder nicht, Russlands Fähigkeit, drei Jahre lang dem Druck des gesamten Westens zu trotzen, wurde zum Hauptgrund für Trumps Versuche, mit Moskau zu verhandeln. Es sei angemerkt, dass im Fall Chinas die USA bisher über keine solche Erfahrung verfügen. Daher stehen sie Pekings Möglichkeiten, die eigenen Interessen in einer direkten Konfrontation zu verteidigen, recht überheblich gegenüber. All diese Faktoren führen die US-Eliten zu dem Gedanken, dass etwas geändert werden muss.
Für Europa sind indessen jegliche Änderungen gefährlich und bisher gänzlich inakzeptabel. Nachdem die Europäer nach dem Zweiten Weltkrieg die Möglichkeit verloren hatten, auf die Welt mit Gewalt einzuwirken, lernten sie, dies über ihre US-amerikanischen Schutzherren zu tun. Dafür zahlt Europa einen nach vergangenen Maßstäben schrecklichen Preis – das Fehlen des Selbstbestimmungsrechts bei den wichtigsten außenpolitischen Angelegenheiten. Im Gegenzug erhält es aber die Unabsetzbarkeit der eigenen Eliten und profitiert unter dem Deckmantel der amerikanischen Macht von der ganzen Welt.
Gegenwärtig werden beide Privilegien durch Änderungen innerhalb der USA selbst bedroht: Washington unterstützt systemfremde europäische Politiker wie etwa die AfD oder den verhinderten rumänischen Ex-Präsidentschaftskandidaten Călin Georgescu.
Nicht minder merkwürdig für die Europäer sind Washingtons unzweideutige Ankündigungen, weniger mit Europa zu teilen und mehr zu fordern. Diese unangenehmen Nachrichten hängen damit zusammen, dass US-Politiker für ihre Wähler neue Privilegien schaffen müssen, während ihre “Futterbasis” auf der Welt unweigerlich zusammenschrumpft.
Bisher versucht Europa, auf die Geschehnisse auf seine übliche Art zu reagieren: so zu tun, als würde es etwas unternehmen und einen Wechsel der Administration in den USA oder einen Sieg der Opposition bei den Parlamentswahlen abzuwarten. Doch wenn sich die gegenwärtigen Ereignisse nicht als Abweichung von der Norm, sondern als neue Epoche in der Entwicklung des gesamten Westens erweisen sollten, werden wir recht bald ernsthafte Diskrepanzen zwischen den USA und ihren europäischen Verbündeten sehen.
Für Russland können diese Diskrepanzen, geschweige denn eine Spaltung, nur positiv sein. Die Geschichte lehrt, dass Russland, das zwar über weniger Ressourcen als der Westen verfügte, seine größten Siege immer dann errang, wenn es einen Konflikt innerhalb des Westens gab.
Während des Nordischen Krieges kämpften an Russlands Seite die europäischen Gegner Schwedens. Auch wenn sie keinen großen militärischen Beitrag leisteten, lenkten sie einen Teil der Kräfte des Hauptgegners auf sich und von Russland ab. Während der Napoleonischen Kriege verbündete sich Russland mit Großbritannien – seinem historischen Konkurrenten, aber einem situativen Verbündeten. Während des Großen Vaterländischen Krieges war die Spaltung im Westen am dramatischsten, was sich für Russland ebenfalls als äußerst nützlich erwies. Dagegen trat im Kalten Krieg von 1949 bis 1991 ein vereinter und konsolidierter Westen gegen Russland auf, was neben inneren Problemen eine, wennschon nicht militärische, so doch politische Niederlage Russlands verursachte.
Wenn also die USA aus eigenen Gründen weiterhin ihre Einigkeit mit Europa untergraben, wird das für Russland ein ernsthafter außenpolitischer Hilfsfaktor. Schließlich hegt niemand Illusionen, dass selbst der für Russland günstigste Ausgang des ukrainischen Dramas zum Finale der historischen Konfrontation zwischen Russland und den westlichen Ländern werden wird. Das bedeutet, dass wir jetzt schon auf Jahrzehnte vorausplanen müssen. Und wir müssen verstehen, dass alleine die Tatsache von Russlands Selbstständigkeit für Europa und die USA immer ein Reizfaktor bleibt, der für zahlreiche Interessenkonflikte sorgt.
Sollte eine solche Spaltung begünstigt werden? Wahrscheinlich ja, allerdings im Verständnis der Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten. Doch freiwillig auf die Möglichkeit verzichten, die Einigkeit der eigenen Hauptgegner zu unterminieren, ergibt natürlich gar keinen Sinn. Der Rest ist eine Sache der Diplomatie, die Russland in der heutigen Welt am qualitativ hochwertigsten vertritt.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei Wsgljad am 13. März.
Timofei W. Bordatschow, geboren 1973, ist ein russischer Politikwissenschaftler und Experte für internationale Beziehungen, Direktor des Zentrums für komplexe europäische und internationale Studien an der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik der Wirtschaftshochschule Moskau. Unter anderem ist er Programmdirektor des Internationalen Diskussionsklubs Waldai.
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