Von Olga Samofalowa
Russland und China stehen kurz vor der Unterzeichnung eines zweiten historischen Vertrags über Pipeline-Gaslieferungen. Der erste historische Gasvertrag mit China war im Jahr 2014 unterzeichnet worden. Danach wurde die Pipeline “Kraft Sibiriens 1” gebaut, dieses Jahr wird sie ihre Auslegungskapazität erreichen: Russland wird dann 38 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr liefern.
Der Vertrag über die Gaslieferungen durch “Kraft Sibiriens 2” wurde jedoch noch nicht unterzeichnet, und ohne ihn kann der Bau der Pipeline nicht beginnen. Wie der stellvertretende russische Ministerpräsident Alexander Nowak erklärte, haben die Staats- und Regierungschefs Russlands und Chinas zum ersten Mal seit Langem über dieses Projekt gesprochen und beschlossen, seine Umsetzung zu beschleunigen. Das russische staatliche Gasunternehmen Gazprom und das chinesische Unternehmen CNPC arbeiten den Vertrag aus und befinden sich in einer aktiven Verhandlungsphase, sagte Sergei Ziwiljow, Leiter des russischen Energieministeriums. Gleichzeitig musste er jedoch sofort klarstellen, dass sie nicht in der Lage sein werden, das Abkommen bis zum 9. Mai zu unterzeichnen.
Wann können wir mit der Unterzeichnung eines kommerziellen Vertrags mit China für “Kraft Sibiriens 2” rechnen?
Igor Juschkow, Experte der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation und des russischen Nationalen Energiesicherheitsfonds, ist der Meinung:
“Es ist nicht sicher, dass die Unterzeichnung des Abkommens noch in diesem Jahr erfolgt. Es wurde bereits mehrfach darüber gesprochen, dass eine Unterzeichnung möglich sei, zum Beispiel während Putins Besuch in China, aber es ist nicht dazu gekommen. Die Chancen für eine Unterzeichnung des Abkommens sind jedoch gestiegen. Sie könnte während des Wirtschaftsforums in Sankt Petersburg oder während des China-Besuchs von Wladimir Putin im September erfolgen. Ich halte es jedoch für wahrscheinlicher, dass es im September geschieht, denn der vorherige Vertrag wurde genau während Putins Besuch in China unterzeichnet. Für die chinesische Seite ist es wahrscheinlich wichtig, dass nicht die Chinesen gehen, um Gas zu holen, sondern dass wir zu ihnen kommen, um Verträge zu unterzeichnen.”
Die wichtigste Frage, die eine Entscheidung über dieses Projekt verzögert hat und die eine Kompromisslösung für beide Seiten erfordert, ist der Preis. Die Preisformel ist nicht bekannt, aber Medienberichten zufolge werden unsere Gaspreise für China nicht an den Spotgasmarkt, sondern an die Inlandspreise in Russland gekoppelt sein, die niedriger sind als die Exportpreise.
Juschkow glaubt nicht, dass China einer Verknüpfung der Preisformel mit den russischen inländischen Gaspreisen zustimmen wird, denn in diesem Fall hätte Russland die volle Kontrolle über die Preisgestaltung der chinesischen Lieferungen. Moskau könnte die inländischen Gaspreise leicht mehrmals anheben, sodass die Chinesen viel mehr zahlen müssten. Gleichzeitig wird der Staat den inländischen Verbrauchern Subventionen anbieten, damit sie nicht zu viel bezahlen müssen. Daher wird sich die Preisgestaltung höchstwahrscheinlich an den Weltenergiepreisen orientieren, meint der Experte.
Gleichzeitig ist Russland aber auch nicht bereit, unrentable Lieferungen zu akzeptieren. Juschkow erklärt:
“Wenn es möglich wäre, einen unrentablen Vertrag zu unterzeichnen, hätten wir ihn schon längst unterschrieben, anstatt jahrzehntelang zu verhandeln. Es heißt, dass Gazprom ein Abkommen mit China nur für den Bau von Gaspipelines unterzeichnet, aber Gazprom war nie ein direkter Nutznießer des Baus. Die Verhandlungen über ‘Kraft Sibiriens 1’ haben ebenfalls lange gedauert, und das Ergebnis war ein Kompromissabkommen, das immer noch günstig für uns ist. Und die Aufgabe für ‘Kraft Sibiriens 2’ ist es, ein günstiges Abkommen zu vereinbaren.”
Die Preisformel im “Kraft Sibiriens 1”-Vertrag ist mit einer Verzögerung von neun Monaten an die Preise für Erdöl und Erdölprodukte auf den asiatischen Märkten gekoppelt. Die Preisformel für “Kraft Sibiriens 2” kann entweder dieselbe sein oder an die Preise auf dem asiatischen Gas-Spotmarkt gekoppelt sein, sagt Juschkow.
Warum gibt es erst jetzt Fortschritte bei diesem langjährigen Projekt?
Juschkow ist der Meinung:
“Erstens ist es eine weitere Verschärfung der Beziehungen zwischen China und den USA. An die Stelle der ständigen Sanktionen ist ein harter Handelskrieg gegen China getreten. Daher denke ich, dass Peking endlich erkannt hat, dass es nur noch schlimmer werden kann. Die USA müssen Chinas Entwicklung aufhalten. Deshalb werden China, egal, was es tut, weiterhin Beschränkungen auferlegt werden.
Wenn der Konflikt in eine akute Phase eintritt, können die USA als Erstes die Energielieferungen nach China aus dem Süden über die Straße von Malakka unterbrechen. Für China wird nicht nur die Menge, sondern auch die Zuverlässigkeit der Energielieferungen wichtig. Und alles, was aus dem Norden kommt, ist viel zuverlässiger. Das ist eines der Argumente, die für eine Intensivierung der Verhandlungen über die ‘Kraft Sibiriens’ sprechen.”
Das zweite Argument ist das Warten auf das Ende der militärischen Sonderoperation. Der Experte des Nationalen Energiesicherheitsfonds meint dazu:
“Jedem ist klar, dass der militärische Konflikt in naher Zukunft beendet sein sollte. Wenn nicht im Jahr 2025, dann im Jahr 2026. Und sehr viele Unternehmen befinden sich auf einem Tiefstart (???), um die Wirtschaftsverträge mit Russland wiederherzustellen. Obwohl die europäischen Politiker ihre Rhetorik gegenüber Russland verschärfen, warten die europäischen Unternehmen darauf, wieder nach Russland gehen zu können. China befindet sich in etwa in der gleichen Lage. Einer der Gründe, warum China den ‘Kraft Sibiriens 2’-Vertrag nicht unterzeichnet hat, ist der Versuch, neutral zu bleiben und keinen Grund für zusätzliche Sanktionen durch eine aktive Zusammenarbeit mit Russland zu liefern. Aber im Vorfeld des zu erwartenden Endes der militärischen Sonderoperation sind die Risiken geringer geworden.”
Darüber hinaus benötigt China zusätzliche Gasmengen: Sowohl sein Gasverbrauch als auch seine Importe nehmen zu. Außerdem steigen die Gasimporte um fast 25 Milliarden Kubikmeter pro Jahr, das heißt sehr stark, stellt Juschkow fest.
Wenn der kommerzielle Vertrag noch in diesem Jahr unterzeichnet würde, könnte das erste Gas durch die neue Pipeline China im Jahr 2030 erreichen. Der Bau könnte etwa vier bis fünf Jahre dauern, wie im Fall der “Kraft Sibiriens 1”, meint der Experte des Nationalen Energiesicherheitsfonds. Dort dauerte es länger, bis die volle Kapazität erreicht war – von 2019 bis 2025: Jedes Jahr wuchs das Liefervolumen um fünf Milliarden Kubikmeter. Im Falle von “Kraft Sibiriens 2” wird es jedoch möglich sein, die Auslegungskapazität von 50 Milliarden Kubikmetern schneller zu erreichen – in fünf Jahren, wobei die Lieferungen jedes Jahr um zehn Milliarden Kubikmeter zunehmen, glaubt der Experte. Die Ressourcenbasis für “Kraft Sibiriens 1” wurde nämlich von Grund auf neu erschlossen, während “Kraft Sibiriens 2” westsibirisches Gas aus bereits erschlossenen Feldern nutzen wird. Von hier aus ist das Gas bisher nach Europa gelangt. Juschkow sagt:
“Ende 2021 berichtete Alexei Miller [Chef von Gazprom] Wladimir Putin, dass in Westsibirien noch etwa 100 Milliarden Kubikmeter an Reservekapazität vorhanden seien. Seitdem haben wir die Exporte nach Europa um weitere 140 Milliarden Kubikmeter reduziert, sodass wir genug Gas für mehrere solcher ‘Kräfte Sibiriens’-Projekte haben.”
Gazprom möchte sicherlich in Zukunft zumindest einen Teil seiner Exporte wiederaufnehmen, insbesondere aus westsibirischen Feldern. Es gibt insgesamt drei Routen für Gaslieferungen aus Russland nach China. Die erste Route über das 38-Milliarden-Kubikmeter-Jahresvolumen von “Kraft Sibiriens 1” ist bereits vollständig realisiert. Die zweite Route – die fernöstliche Route mit einer Kapazität von zehn Milliarden Kubikmetern pro Jahr – wird als Teil des Vertrags bis zum Jahr 2027 realisiert werden. Die dritte Route – durch die Mongolei über die Pipeline “Kraft Sibiriens 2” mit einer Kapazität von 50 Milliarden Kubikmetern – wird derzeit entwickelt, und die Unterzeichnung eines Vertrags wird erwartet. Insgesamt wird Russland in der Lage sein, China in Zukunft 98, das heißt fast 100 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr über zuverlässige Routen zu liefern.
Dies ist nicht nur für Gazprom, sondern auch für Russland als Staat von Vorteil, da Gazprom mehr Bergbau- und Ausfuhrabgaben in den Haushalt einzahlen wird. Wladimir Tschernow, Analyst bei Freedom Finance Global, rechnet vor:
“Der geschätzte Preis für die Lieferungen hängt von der endgültigen Vertragsformel ab, aber für eine grobe Berechnung kann ein fiktiver Preis von 250 Dollar pro tausend Kubikmeter verwendet werden. Das ist niedriger als in Europa, aber höher als die Inlandspreise und nahe dem Niveau von ‘Kraft Sibiriens 1’. Die jährlichen Einnahmen aus dem Export von 50 Milliarden Kubikmetern belaufen sich dann auf 12,5 Milliarden Dollar pro Jahr, was bei einem Wechselkurs von 90 Rubel pro Dollar etwa 1,13 Billionen Rubel pro Jahr ausmacht. Davon könnten die Mineralgewinnungssteuer und die Ausfuhrzölle, sofern sie beibehalten werden, den Haushalt mit 30 bis 35 Prozent der Einnahmen belasten, das heißt mit etwa 350 bis 400 Milliarden Rubel jährlich. Auch die Unternehmenssteuern und die Steuern auf die Löhne und Gehälter, die mit der Infrastruktur dieses Projekts verbunden sind, werden dem Haushalt zusätzliche Einnahmen bescheren.”
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 13. Mai 2025 zuerst auf der Website der Zeitung Wsgljad erschienen.
Olga Samofalowa ist eine Wirtschaftsanalystin bei der Zeitung Wsgljad.
Mehr zum Thema – Trumps irrsinniger Zollkrieg gegen China