Von Dagmar Henn
Seit dem Februar 2022 trötet uns die deutsche Politik die Ohren voll mit dem “unprovozierten Angriffskrieg Russlands”. Und jetzt erklärt Bundeskanzler Friedrich Merz, es gebe “keinen Grund für Kritik” am US-Angriff auf Iran. Nun, eines von beidem ist wirklich ein “unprovozierter Angriffskrieg”. Aber kann man von deutschen Kanzlern anderes erwarten, als das angebrachte Vokabular völlig zu vergessen, wenn es um die Vereinigten Staaten geht?
Schauen wir zurück in den Februar 2022, vor Beginn der russischen Spezialoperation. Den ganzen Monat über hatte der Beschuss gegen die Donbassrepubliken durch die Ukraine zugenommen; eine Tatsache, die auch die OSZE damals dokumentierte. Und dann begannen kleinere Überfälle ukrainischer Einheiten über die Frontlinie. Gewaltsame Aufklärung nennt sich das oder Gefechtsaufklärung, ob man nun den Ost- oder den Westbegriff dafür verwenden will. Eines ist jedenfalls klar: Das sind Handlungen, die üblicherweise einem größeren Angriff unmittelbar vorausgehen, denn ihr Zweck liegt in der Erkundung von Stellungen und Reaktionszeiten.
Nachdem ich mich nicht in Deutschland befinde, kann ich glücklicherweise sagen, was das bedeutet. Das ist genau die eine Situation, in der nach Artikel 51 der UN-Charta ein präventiver Angriff gestattet ist (sofern man davon ausgeht, dass der Beschuss nicht selbst bereits einen Angriff darstellt). Nämlich “das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung”. Wobei auch das Bündnis, das zuvor zwischen Russland und den beiden Donbassrepubliken geschlossen wurde, legal ist, nach Artikel 52 ebendieser Charta.
Es ist schwierig, nach zu diesem Zeitpunkt bereits acht Jahren dauerhaftem Beschuss gegen den Donbass von “unprovoziert” zu sprechen. Das funktionierte auch nur, weil alle Ereignisse im Donbass all die Jahre über ausgeblendet wurden. Und man kann Russland keinesfalls vorwerfen, sich nicht um eine friedliche Lösung bemüht zu haben; die beiden Minsker Abkommen wurden von ukrainischer Seite sabotiert, nicht von Russland, auch nicht von den Donbassrepubliken.
Das, was nun Merz nicht kritisieren will, sieht ganz anders aus. Es gab keinerlei Angriffshandlungen oder Angriffsvorbereitungen Irans gegen die Vereinigten Staaten. Auch die Mär von drohenden iranischen Atomwaffen wurde nicht einmal von den relevanten Geheimdiensten bestätigt, auch wenn US-Geheimdienstkoordinatorin Tulsi Gabbard nach dem US-Angriff einen Rückzieher machte. Da war einfach nichts. Zum Vergleich – im Donbass im Jahr 2022 stellt sich durchaus die Frage, ob nicht durch den stärkeren Beschuss der ukrainische Angriff bereits begonnen hatte; es ist reichlich schwierig, das ständige Feuern von Grad-Raketen als friedliches Verhalten zu sehen.
Nach drei Jahren, in denen unablässig getönt wurde, welche Sanktionen hingenommen werden müssen, weil Russland einen unprovozierten Angriffskrieg begonnen hätte, bombardieren die Vereinigten Staaten ein Land, das zuvor keinen einzigen Schuss abgefeuert hatte; geschmackvollerweise auch noch am Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Schwierig, zu behaupten, dass ein Bombenabwurf auf zivile Einrichtungen keine Kriegshandlung sei. Das ist eine, daran besteht gar kein Zweifel. Und unprovoziert ist sie außerdem, denn die gegebene Begründung hat keinerlei Verbindung zur Wirklichkeit. Selbst die IAEA, die immer wieder eine äußerst zwielichtige Rolle spielt, hat bestätigt, dass es keinerlei Anzeichen für ein militärisches Atomprogramm in Iran gibt, und nach wie vor gelten Atomwaffen in Iran als inkompatibel mit dem islamischen Recht (das übrigens, weit früher als im Abendland, untersagte, Zivilisten zu töten).
Also wozu wurde diese Formel vom “unprovozierten Angriffskrieg” all die Jahre heruntergebetet? Wohl eher, um die Sinne zu vernebeln und das Publikum davon abzuhalten, sich tatsächlich Gedanken darüber zu machen, was diese Worte bedeuten. Denn wären sie je ernst gemeint gewesen, die EU müsste sich jetzt zu einer Sondersitzung treffen, um Sanktionen gegen die USA zu beraten (wobei jene gegen Israel schon längst verabschiedet sein müssten). Sie waren nie erst gemeint.
Allerdings hat das Verhalten der USA doch an einem Punkt eine Gemeinsamkeit mit der Situation an der Donbassfront damals im Jahr 2022, und wenn man an diesem Punkt einen Vergleich zieht, sieht man, wie weit sich die Missachtung des Völkerrechts inzwischen verschärft hat.
Damals gab es Verträge, eben die erwähnten Minsker Abkommen, die sogar durch den UN-Sicherheitsrat verabschiedet worden waren, die aber nach Unterzeichnung, eingestandenermaßen, vom Westen unterlaufen wurden. Bezeugt vom ehemaligen französischen Präsidenten Francois Hollande wie von der ehemaligen deutschen Kanzlerin Angela Merkel. Das, was im Februar 2022 ablief, war ein Bruch dieses Abkommens, das eigentlich vorschrieb, die gesamte Artillerie über ihre maximale Reichweite hinaus von der Kontaktlinie abzuziehen. Wäre das eingehalten worden, hätte es den gesteigerten Beschuss im Februar nicht geben können. Wären diese Abkommen von westlicher Seite ernst gemeint gewesen, hätte eine Reaktion erfolgen müssen. Es gab keine, obwohl die von der OSZE aufgenommenen Daten allen Mitgliedsländern vorlagen, also auch der deutschen und der französischen Regierung.
Dieser Akt der Täuschung mit den Minsker Abkommen dauerte sieben Jahre; das zweite dieser Abkommen wurde im Februar 2015 geschlossen. Das, was rund um den US-Angriff geschah, entwickelte sich schneller und war noch ein bisschen zynischer. Denn vor dem Anflug der schweren US-Bomber gab es noch den israelischen Angriff eine Woche davor, der auch noch Mordanschläge gegen die iranischen Unterhändler einschloss, die sich zu diesem Zeitpunkt in Verhandlungen mit den USA befanden. Und der US-Angriff selbst fand statt, nachdem sich (neue) iranische Vertreter in Genf mit den Außenministern von Großbritannien, Frankreich und Deutschland getroffen hatten.
Da die US-Regierung inzwischen eingestanden hat, vom geplanten israelischen Angriff gewusst zu haben, waren die Verhandlungen von US-amerikanischer Seite nur ein weiteres Täuschungsmanöver. Schlimmer noch, man lobte sich noch für diese geschickte Täuschung. Ähnlich übrigens wie Hollande und Merkel, deren Bekenntnisse nicht aus Reue geschahen, sondern weil sie sich darauf etwas zugutehielten, die Russen in Sicherheit gewiegt zu haben.
Nun erzeugt beides, die Täuschung wie die verzerrte Verwendung des Begriffs “Angriffskrieg”, ein grundlegendes Problem: Es handelt sich dabei um eine Haltung, die zwar nützlich sein mag, wenn man Kriege beginnen will, sich aber als äußerst schädlich erweist, sollte man sie irgendwann beenden wollen. Denn wie sollte man Vereinbarungen mit einem Gegenüber schließen, das sich nicht an Vereinbarungen hält; wie mit einem Gegenüber verhandeln, das Unterhändler ermordet oder die Ermordung billigt? Übrigens ein Detail, das sich im Zusammenhang mit Minsk ebenfalls findet – Alexander Sachartschenko, der damals für die Volksrepublik Donezk verhandelte, wurde auch ermordet.
Verhandlungen erzielen also nicht nur ein äußerst ungewisses Ergebnis, sie sind noch dazu für jene, die die Verhandlungen führen, persönlich gefährlich. Wer sollte da verhandeln wollen? Die einzige Voraussetzung, unter der ein derartiges Verhalten auch nur ansatzweise logisch nachvollziehbar ist, ist, wenn die Seite, die sich derart benimmt, fest davon überzeugt ist, nie wieder verhandeln zu müssen.
Anzeichen in diese Richtung gab es bereits im Jahr 2014. Zwei, um genau zu sein. Das Erste war ein Angriff auf die russische Botschaft in Kiew, nach dem Maidan. Darauf erfolgte von westlicher Seite keinerlei Reaktion, keine Verurteilung, keine Anforderung an Kiew, die Botschaftsgebäude zu schützen. Das zweite Anzeichen war das westliche Verhalten bei der ersten russischen Hilfslieferung nach Donezk, im Sommer. Ein ganzer Lkw-Konvoi wurde an der ukrainisch-russischen Grenze hin- und hergeschoben und nicht durchgelassen, obwohl die Fracht mehrmals auch von Vertretern des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz überprüft worden war. Das IKRK hätte dagegen protestieren müssen, weil die Verhinderung humanitärer Hilfe ein Kriegsverbrechen darstellt. Das IKRK schwieg.
Das waren nur erste kleine Anzeichen für eine Entwicklung, die sich in den Folgejahren verschärfte. Das Verhalten der OSZE, die die ganzen Jahre über den Beschuss im Donbass aufzeichnete, ist ein weiteres Beispiel dafür: Sie entstand im Jahr 1995 aus der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, einer Struktur, die einst geschaffen wurde, um über die Front des Kalten Kriegs hinweg zu kooperieren. Nun, die OSZE-Beobachter haben brav die Einschüsse gezählt, die Einschlagswinkel ausgemessen und dann Listen veröffentlicht, wie viele Geschosse über die Donbassfront flogen – aber nie dazugesagt, welche Seite sie abgefeuert hat, jedenfalls nicht öffentlich. Obwohl genau das die Information ist, die sich aus diesen physikalischen Daten ergibt und ihre Aufgabe eigentlich darin bestand, die Waffenruhe der Minsker Abkommen zu überwachen.
Im Gegenteil. Es gibt Geschichten, und zwar nicht wenige, dass der ukrainische Beschuss in dem Moment einsetzte, wenn die OSZE-Beobachter fort waren. Das geht bis hin zur Frage, ob aus den Reihen der OSZE Koordinaten nicht weitergereicht wurden, um den ukrainischen Beschuss zu erleichtern. Doch selbst wenn nicht – die Leistung der OSZE-Beobachter war zweifelhaft genug, dass damit die Rolle, für die die OSZE ursprünglich geschaffen wurde, obsolet war. Sie war zu sehr Partei.
Inzwischen ist die Liste derart kompromittierter internationaler Organisationen lang. Sie wurden vom Westen gekapert, oder die Führung wurde erpresst oder gekauft. Die meisten organisatorischen Adern, die Strukturen, die “blockübergreifend” tätig waren, sind nicht mehr funktionsfähig; jedenfalls nicht mehr als Verbindung.
Die Mauer, die auf dem Feld der Information errichtet wurde, gehört ebenfalls dazu. Denn indem man der Bevölkerung im Westen Informationen über wichtige Ereignisse vorenthielt (wie den 2. Mai 2014 in Odessa), zerstörte man auch die gemeinsame Wahrnehmung. Nur – man muss sich über grundlegende Begriffe einig sein, um überhaupt kommunizieren zu können.
Iran brachte übrigens das Argument vor, das Verhalten der USA (und die von ihnen aufgestellte Forderung, auch die zivile Urananreicherung zu unterlassen) schädige den Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen. Und er hat recht damit – denn auch dieser Vertrag setzt ein gewisses Gleichgewicht voraus, und der Ausgleich für den Verlust an Sicherheit, den dieser Verzicht darstellt, wird durch das Recht einer ungestörten friedlichen Nutzung kompensiert. Wenn am iranischen Beispiel vorexerziert wird, dass auch eine Ratifizierung des Atomwaffensperrvertrags mitsamt Überwachung der Atomanlagen durch die IAEA nicht vor Angriffen schützt, die mit einer vagen Möglichkeit, Atomwaffen zu produzieren, begründet werden, betrifft das bei Weitem nicht nur Iran oder das Verhältnis zwischen Iran und den Vereinigten Staaten. Es verwandelt den Nichtverbreitungsvertrag in ein nutzloses Papier.
“Es gibt für uns und auch für mich persönlich keinen Grund, das zu kritisieren, was Israel vor einer Woche begonnen hat, und auch keinen Grund, das zu kritisieren, was Amerika am letzten Wochenende getan hat.”
Es war der deutsche Außenminister, der sich in Genf mit den Iranern getroffen hatte, während die US-Bomber für den Angriff bereits im Anflug waren. In früheren Jahrzehnten wäre die Reaktion Empörung gewesen, mindestens, weil man vom eigenen Verbündeten, der angeblich nicht vorab informiert hatte, missbraucht wurde. Aber womöglich ist die Aussage, man habe nicht davon gewusst, die Lüge. Fest steht jedenfalls, dass auch diese Bundesregierung die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen konnte, sich vor dem Rest der Welt bis auf die Knochen zu blamieren.
Welchen Wert besitzt noch ein US-Angebot zu Verhandlungen? Welchen Wert ein Deutsches? Und auf welcher Grundlage beruht die Überzeugung, sich eine solche Position leisten zu können? Nur, weil ein solches Maß an Heimtücke in weiten Teilen der Welt als derart unehrenhaft gilt, dass man nicht fürchten muss, es mit gleicher Münze heimgezahlt zu bekommen? Oder weil nach wie vor die Vorstellung in den Köpfen herumspukt, der Westen sei so mächtig, dass ihm ohnehin niemand am Zeug flicken könne, gleich, was er anstellt?
Die globalen Wirtschaftsdaten sprechen eine andere Sprache. Auch ein Blick auf das letzte Treffen der einst dominanten G7 vermittelt eine andere Botschaft. Das Geschäftsmodell, selbst weitgehend auf Produktion zu verzichten und weltweit nur den Rahm abzuschöpfen, endet gerade. Was für die USA mit ihrer relativ starken Rohstoffbasis noch glimpflich abgehen mag – für Westeuropa sieht das anders aus. Jenseits der Wahnvorstellungen, sich am Kolonialmachtstatus festklammern zu können, sind die Brötchen deutlich kleiner, und es bräuchte genau das, was Gestalten wie Merz so überdeutlich ablehnen: die Fähigkeit und die Bereitschaft, mit Verhandlungen und Respekt vor souveräner Gleichheit den eigenen Platz in der veränderten Welt zu finden.
Die, das lässt sich aus allen Erklärungen etwa der BRICS-Staaten herauslesen, auf der Einhaltung der UN-Charta bestehen wird. Auf einem Völkerrecht, das nicht je nach Gelegenheit als Steinbruch genutzt oder völlig ignoriert wird. In dem also ein Angriffskrieg wieder ein Angriffskrieg und Selbstverteidigung wieder Selbstverteidigung ist, und nicht wie in den letzten Jahren, als hätte man im Westen den Chor der Hexen von Macbeth verinnerlicht: “Schön ist hässlich, hässlich schön.”
Merz jedenfalls dürfte außerhalb des engen westlichen Zirkels künftig, wenn er die Worte “Völkerrecht” oder “Angriffskrieg” in den Mund nimmt, nur noch betretenes Schweigen ernten. Oder aber schallendes Gelächter.
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