Eine Analyse von Pierre Lévy
Bereits am 19. Januar hatte es bezüglich der Zahl der Demonstranten im ganzen Land und der Streiks in vielen Bereichen eine beachtliche Mobilisierung gegen die Rentenreform, die die Regierung von Emmanuel Macron durchzusetzen versucht, gegeben.
Die Mobilisierung jedoch, die am 31. Januar zustande kam, ging über die erste Etappe hinaus: Das Innenministerium selbst räumte ein, dass fast 1,3 Millionen Menschen auf die Straße gegangen waren; die Gewerkschaften ihrerseits schätzen diese Gesamtzahl auf über 2,5 Millionen. Man muss fast drei Jahrzehnte zurückgehen, um eine soziale Bewegung von solchem Ausmaß zu finden.
Noch bemerkenswerter als die Gesamtzahl der Demonstranten ist ihre Verteilung. Die Demonstrationen in den großen Städten und insbesondere in Paris hatten natürlich einen Rekordandrang. Was aber die Beobachter und auch die Gewerkschaften selbst beeindruckte, war das, was in mittelgroßen Städten und sogar in Gemeinden mit einigen zehntausend Einwohnern geschah. Dazu kommt noch die Tatsache, dass eine hohe Zahl von Arbeitnehmern zum ersten Mal in ihrem Leben demonstrierte.
Während die linken Parteien die Mobilisierung unterstützten, stellten einige Analysten fest, dass die Beteiligung von Bürgern in mittleren und kleinen Städten den Gebieten entsprach, in denen Marine Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2022 am stärksten abgeschnitten hatte. Dies sind sehr oft Orte, an denen die Bürger am stärksten das Gefühl haben, aufgrund von Deindustrialisierung und besonders hoher Arbeitslosigkeit vergessen und zurückgelassen zu werden.
Zwei der Faktoren, die zum Erfolg dieses Tages, den manche bereits als historisch bezeichnen, beigetragen haben, verdienen besonders hervorgehoben zu werden. Der erste betrifft natürlich die zentrale Stellung der Rente im Rahmen der sozialen Errungenschaften. Für Millionen von Arbeitnehmern, die während ihres Arbeitslebens beschwerlichen, belastenden oder sich wiederholenden Aufgaben ausgesetzt sind, ist die Aussicht darauf, endlich aufatmen und das Leben genießen zu können, bevor man völlig “kaputt” ist, von größter Bedeutung.
Die geplante Reform – die eine Anhebung des Renteneintrittsalters auf 64 Jahre vorsieht und die Anzahl der für den Eintritt in den Ruhestand erforderlichen Arbeitsquartale schneller als erwartet erhöht – wird daher als Diebstahl und Verrat empfunden. Einer offiziellen Studie zufolge sind Frauen besonders betroffen, da ihre Karrieren “unterbrochener” oder unsicherer sind.
Aber auch ein zweiter Faktor trägt zum Erfolg des derzeitigen Mobilisierungsklimas bei: der durch die Inflation verursachte Kaufkraftverlust, insbesondere bei Energie und Lebensmitteln. Die Folgen sind für Geringverdiener oft dramatisch, aber auch diejenigen, die sich zur Mittelschicht zählen, bleiben nicht verschont.
Kann die Bewegung zu einem Sieg führen, d. h. zur Rücknahme des Gesetzentwurfs? Die von Élisabeth Borne geführte Regierung verfügt in der Nationalversammlung nicht über eine absolute Mehrheit von Macron-freundlichen Abgeordneten – ein in Frankreich sehr seltener Fall. Die Abgeordneten aller linken Parteien sowie der Rassemblement National (RN, wird oft als rechtsextrem oder “populistisch” eingestuft) haben entschiedenen parlamentarischen Widerstand angekündigt. Die RN-Abgeordneten haben sogar einen Antrag auf ein Referendum über den Gesetzesentwurf gestellt, aber viele linke Abgeordnete, die einen ähnlichen Antrag stellen wollten, zögern, sich einem Text anzuschließen, weil er “von der extremen Rechten vorgelegt” wird.
Auf parlamentarischer Ebene wird also viel von der Haltung der Partei Les Républicains (LR, klassische Rechte) abhängen. Grundsätzlich stimmen diese der Reform zu, wollen aber Änderungsanträge zur Abmilderung der Reform durchsetzen; und einige ihrer Abgeordneten könnten unter dem Druck ihrer Wähler gegen den Entwurf stimmen.
Selbst einige macronistische Abgeordnete könnten in diesem Zusammenhang abtrünnig werden. Die Parlamentsdebatten dürften in den nächsten Wochen auf Hochtouren laufen. Die Regierung verfügt über eine verfassungsrechtliche Waffe: Diese ermöglicht eine Verabschiedung ohne Abstimmung, wobei die Oppositionen dann mit absoluter Mehrheit einen Misstrauensantrag verabschieden müssten, um den Text zu Fall zu bringen (Artikel 49.3 der Verfassung).
Vieles wird also davon abhängen, ob die derzeitige Bewegung noch an Stärke gewinnt. Die nächsten Demonstrationen sind bereits für den 7. und 11. Februar geplant. Aber auch wenn die Mobilisierung stark ist, hat sie zwei Schwachpunkte, die mit der Positionierung der Gewerkschaftsführungen zusammenhängen. Keine von ihnen weist auf die Verbindung zwischen der Reform und der Rolle der Europäischen Union hin. Es ist, als hätte der französische Präsident ganz allein eine plötzliche Laune gehabt.
Die Europäische Kommission erinnerte jedoch kürzlich daran, dass der Rat der Europäischen Union Frankreich am 12. Juli 2022 empfohlen hatte, das Rentensystem zu reformieren. Und sie ließ eine gewisse Ungeduld durchblicken: “Bisher wurden noch keine konkreten Maßnahmen genannt.” Darüber hinaus strebt der französische Präsident eine Führungsrolle in der Union an, muss dafür aber gegenüber seinen Amtskollegen glaubwürdig sein und möchte daher als erfolgreicher Reformer erscheinen.
Das andere “Versäumnis” der Gewerkschaftsführungen betrifft den Krieg: Frankreich ist nicht das letzte Land, das immer raffiniertere Waffen an die Ukraine liefert. Der Herr des Élysée-Palastes hat sogar die Verlegung von Kampfflugzeugen nach Kiew in Erwägung gezogen (“nichts ist ausgeschlossen”). Wenn man die militärische, wirtschaftliche und finanzielle Unterstützung zusammenzählt, gewinnt die Rechnung schnell an Umfang. Einigen Schätzungen zufolge sollen andererseits mit der Rentenreform 10 Milliarden Euro “eingespart” werden, und zwar auf Kosten der Arbeiter. Zur Erinnerung: Die EU plant, die ukrainische Regierung allein im Jahr 2023 mit weiteren 18 Milliarden zu unterstützen.
Offiziell befindet sich Frankreich – wie seine westlichen Partner – nicht im Krieg. De facto befindet es sich jedoch in einem solchen. Es ist eine uralte Erfahrung der Gewerkschaftsbewegung, dass eine kriegslüsterne Regierung keine Politik des sozialen Fortschritts betreiben kann, ganz im Gegenteil.
Es wäre gut, dies heute in Erinnerung zu rufen.
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