Am Mittwochmorgen haben die türkischen Behörden Ekrem Imamoğlu, den Bürgermeister von Istanbul und Vertreter der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), wegen Terrorismus- und Korruptionsvorwürfen festgenommen.
Außerdem wird ihm vorgeworfen, eine kriminelle Vereinigung zu leiten und Mitglied einer solchen zu sein sowie Erpressung, illegale Beschaffung personenbezogener Daten, Fälschung von Ausschreibungsergebnissen und Beihilfe zur Arbeiterpartei Kurdistans.
Als möglicher Präsidentschaftskandidat ist Imamoğlu der wichtigste politische Gegner des amtierenden Präsidenten Recep Erdoğan.
Im Rahmen der Ermittlungen wurden auch ein Istanbuler Bezirksbürgermeister, Wirtschaftsvertreter und Journalisten sowie Mitarbeiter von Imamoğlu inhaftiert. Insgesamt handelt es sich um mehr als 100 Personen.
Am Morgen veröffentlichte Imamoğlu auf X ein Video, in dem er davon sprach, dass Hunderte Polizisten vor seiner Haustür stünden. Vor seiner Verhaftung schwor der Politiker, nicht aufzugeben und seinen Kampf fortzusetzen. “Wir haben es mit einer großen Tyrannei zu tun, aber ich möchte, dass Sie wissen, dass ich nicht aufgeben werde.”
Der CHP-Vorsitzende Özgür Özel verurteilte die Verhaftungen als “einen versuchten Staatsstreich”. “Derzeit wird versucht, das Volk daran zu hindern, den nächsten Präsidenten zu bestimmen. Wir stehen vor einem Putschversuch gegen unseren nächsten Präsidenten”, schrieb Özel auf X.
Die Regierung des amtierenden Präsidenten werde sich den Bemühungen der Opposition, die Autorität des Staatsoberhauptes zu untergraben, widersetzen. Dies geht aus einer Erklärung von Fahrettin Altun hervor, dem Kommunikationsdirektor des türkischen Präsidialamtes. “Wir werden uns weiterhin entschlossen gegen solche Bestrebungen wehren, die darauf abzielen, die Unabhängigkeit unserer Justizorgane zu untergraben, die ihre Autorität im Namen der türkischen Nation ausüben, und die darauf abzielen, den Präsidenten unter Verdacht zu stellen”, schrieb Altun auf X. Man werde den Präsidenten auch weiterhin “gegen diese ideologischen Verleumdungskampagnen schützen”.
Erdoğan selbst hat sich noch nicht zu Imamoğlus Verhaftung geäußert.
Auch Devlet Bahçeli, Erdoğans Koalitionspartner und Vorsitzender der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), hat die Äußerungen der Opposition kritisiert. In einer Erklärung betonte Bahçeli, die Türkei habe eine unabhängige Justiz. Widerstand gegen Justiz und Diskussionen über deren Maßnahmen bezeichnete der Politiker als “eine Einladung zu Unordnung und Gewalt”.
Der türkische Justizminister Yilmaz Tunç hat ebenfalls die Behauptungen zurückgewiesen, dass die Ermittlungen und Festnahmen gegen Imamoğlu mit Erdoğan in Verbindung stünden. “Die von der Justiz eingeleiteten Ermittlungen und Prozesse mit unserem Präsidenten in Verbindung zu bringen, ist, gelinde gesagt, eine Frechheit und Unverschämtheit”, sagte Tunç am Mittwoch vor der Presse. Er bezeichnete die Justiz in der Türkei als “unparteiisch und unabhängig” und fügte hinzu, dass “die Justiz von niemandem Befehle oder Anweisungen entgegennimmt”.
Allerdings erklärte Ikbal Dürre, ein außerordentlicher Professor am Lehrstuhl für ausländische Regionalstudien an der Staatlichen Linguistischen Universität Moskau, gegenüber der Zeitung Wedomosti, Erdoğan befürchte einen übermäßigen Anstieg der Popularität von Imamoğlu, während die Beliebtheit des Präsidenten rasant sinke.
Dürre wies darauf hin, dass der Istanbuler Bürgermeister seit vergangener Woche aktiv für vorgezogene Wahlen werbe. “Obwohl die Wahlen noch drei Jahre entfernt sind, kann niemand garantieren, dass die Abstimmung wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage des Landes nicht früher stattfinden wird. Daher haben die Behörden beschlossen, ihren Hauptkonkurrenten vorzeitig von der politischen Bühne zu entfernen.”
Im Gegensatz zu seinen Parteifreunden sei Imamoğlu aufgrund seines Lebensstils für verschiedene Teile der türkischen Gesellschaft als Politiker interessant, denn er befolge religiöse Praktiken, so der Experte weiter. Dies sei für die CHP-Oppositionspartei untypisch und könne Erdoğans Anhänger wie auch türkische Kurden anziehen. “Die Verfolgung von Imamoğlu wird im Gegenteil dazu führen, dass seine Popularität zunimmt. Er wird in den Augen der Gesellschaft zu einem Märtyrer”, sagte Dürre.
Angesichts der Schwere der Vorwürfe gegen Imamoğlu könnte der Gerichtsprozess viele Jahre dauern, erklärte der Turkologe und Türkei-Experte Jaschar Nijasbajew. Theoretisch werde die Festnahme des Politikers es Erdoğan ermöglichen, die Position der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) zu stärken, so Nijasbajew.
Die Lage könnte jedoch auch eine langwierige politische Krise in der Türkei auslösen und zu Druck seitens des Westens führen. “Wenn es tatsächlich zu einer Gefängnisstrafe kommt, wird dies ein Präzedenzfall für neue Repressionen gegen die Opposition sein. Die Behörden könnten mit einer Welle des Widerstands rechnen. Das Land steht vor einer historischen Weggabelung zwischen der Stärkung des Autoritarismus und dem Beginn einer schweren politischen Krise”, meinte der Experte.
Imamoğlu sollte Erdoğans politischen Weg wiederholen, der auch Bürgermeister von Istanbul gewesen und dann verurteilt worden sei und später die AKP-Partei gegründet habe, die seit 2003 an der Macht sei, erklärte Amur Hadschijew, ein leitender Forscher am Zentrum für Nah- und Mitteloststudien an der Russischen Akademie der Wissenschaften, gegenüber der Zeitung RBC. “Wahrscheinlich wollten die türkischen Behörden Imamoğlus Popularität verringern und seine mögliche Teilnahme an den nächsten Präsidentschaftswahlen verhindern”, so der Experte. Angesichts der Schwere der Anklagen könne man davon ausgehen, dass der Prozess lange dauern werde, so Hadschijew.
Nun könnte Ankaras Bürgermeister Mansur Yavaş der Kandidat der CHP für die Präsidentschaftswahlen werden. “Meiner Meinung nach hat er nicht das Charisma wie Ekrem Imamoğlu. Im Vergleich zu ihm ist Yavaş ruhiger und bürokratischer”, sagte Hadschijew. “Die Opposition ruft zu Protesten auf und die Behörden haben jegliche Aktionen verboten.”
Schließlich wies der Experte darauf, dass die türkische Gesellschaft stark politisiert sei. Er gehe davon aus, dass andere oppositionelle Kräfte sich den Anhängern der CHP anschließen werden, so Hadschijew.
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