Im Rahmen der Podiumsdiskussion beim Internationalen Waldai-Diskussionsforum am Donnerstag hat Russlands Präsident Wladimir Putin neben zahlreichen anderen Themen auch den Konflikt in der Ukraine angesprochen. Dieser sei die Eskalation langjähriger Prozesse, die Putin als “tektonische Änderungen der Weltordnung” bezeichnete.
Die Schuld an der Verursachung des Konflikts wies der Präsident erneut dem Westen zu. Er erinnerte an den Kiewer Putsch im Jahr 2014. Der “blutige, staatsfeindliche und verfassungsfeindliche Umsturz” sei komplett unnötig gewesen, da der damalige Präsident Wiktor Janukowitsch bei den vereinbarten Neuwahlen sowieso wenig bis keine Chancen gehabt hätte. Der Westen wollte aber zeigen, “wer der Herr im Hause” sei, so Putin. Der Widerstand gegen den Putsch auf der Krim und im Donbass habe den Konflikt entfacht.
Putin führte zwei Faktoren an, die Russland zur Entscheidung über die Durchführung der Militäroperation bewogen hatten. Erstens wäre dies die Expansion der NATO und das bewusste Ignorieren russischer Sicherheitsinteressen:
“Ein erneuter Versuch am Ende des vergangenen Jahres ist erneut gescheitert. Man hat uns einfach weggeschickt und gesagt: ‘Sitzt still dort drüben’… Ich sage lieber nichts Unangebrachtes, kurz, man hat uns ignoriert.”
Als zweiten Auslöser nannte der Präsident die öffentliche Weigerung durch das Kiewer Regime, die Minsker Abkommen einzuhalten. Er wies unter anderem auf das Geständnis des ukrainischen Ex-Präsidenten Petro Poroschenko hin. Poroschenko hatte zuvor zugegeben, eine Verwirklichung der von ihm unterschriebenen Abkommen niemals beabsichtigt zu haben. Dieses Problem sei in der Berichterstattung massiv unterschlagen worden, es wäre aber dennoch real. Anschließend fragte Putin:
“Was hat das für uns bedeutet? Dass wir etwas für den Donbass tun müssten.”
Die Reaktion auf die Missachtung der Minsker Abkommen durch Kiew sei die Anerkennung der Donbass-Republiken durch Russland gewesen. Es wäre für Russland aber unmöglich, nach der formalen Anerkennung die Republiken allein zu lassen. Auf sich allein gestellt, wären sie nicht überlebensfähig. Zudem wünschte sich die Mehrheit ihrer Bevölkerung den Anschluss an die Russische Föderation. Da die Donbass-Gebiete auch im Fall eines formellen Beitritts zu Russland von ukrainischen Truppen angegriffen worden wären, sei konsequenterweise die Entscheidung über die Durchführung der Militäroperation getroffen worden. Ein Eingriff zu einem späteren Zeitpunkt wäre wegen der militärischen Unterstützung der Ukraine durch die NATO nur schwieriger gewesen und hätte für höhere Verluste gesorgt.
Angesprochen auf die Folgen der Militäroperation für Russland selbst, räumte Putin ein, dass das Land Verluste – zuvorderst an Menschenleben, aber auch in wirtschaftlicher Hinsicht – erleide. Gleichzeitig gebe es “riesige Zugewinne” und letztendlich würde diese Entwicklung Russland nutzen:
“Vor gar nicht langer Zeit dachten wir mit Besorgnis, dass wir selbst zu irgendeiner Halbkolonie werden. Wir könnten nichts ohne unsere westlichen Partner tun, keine Finanzabrechnungen machen, hätten keine Technologien, keine Märkte.”
Die wirtschaftlichen Grundlagen Russlands hätten sich als stärker erwiesen, “als irgendjemand dachte, möglicherweise sogar wir selbst”. Der Umbau der Wirtschaft und der Importersatz würden Russland helfen, seine Souveränität zu stärken:
“Wir sagten immer, wir wären ein großes Land. Nun ist es uns selbst bewusst geworden: Wir können es tun.”
Nicht weniger wichtig sei aber auch die geistige Komponente in Form der Bereitschaft, für die eigenen Leute zu kämpfen. Die traditionelle russische Losung “Wir lassen die Unsrigen nicht im Stich” habe sich bestätigt und bekräftigt, so Putin. Dadurch würde der gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt.
Die in seinem Artikel “Über die geschichtliche Einheit von Russen und Ukrainern” vom 12. Juli 2021 aufgestellte These, wonach Russen und Ukrainer ein Volk seien, vertrete er auch weiter, antwortete Putin auf eine entsprechende Frage:
“Das ist eine historische Tatsache. Auf unseren Gebieten entstand im 9. Jahrhundert der russische Staat, in Nowgorod und in Kiew.”
Sprachliche Änderungen hätten erst seit dem 14. oder 15. Jahrhundert unter polnischem Einfluss stattgefunden, doch auch während der Vereinigung zwischen der Ukraine und Russland im Jahr 1654 hätten sich Ukrainer in offiziellen Dokumenten als “russische orthodoxe Menschen” bezeichnet. Putin räumte weiter ein:
“Natürlich entstehen mit der Entwicklung des einen oder anderen Ethnos unterschiedliche Prozesse. Wenn ein Teil eines einheitlichen Ethnos zu einem gewissen Zeitpunkt entscheidet, dass sie ein Niveau erreicht haben, dass sie ein separates Volk sind, kann man das nur respektieren.”
Er gab dennoch zu bedenken, dass die historischen und sprachlichen Unterschiede zwischen Russen und Ukrainern seit dem 19. Jahrhundert zunehmend von außen nach dem Prinzip “Divide et impera” verstärkt und gefördert wurden. Ihren Höhepunkt habe diese Entwicklung in der Kollaboration ukrainischer Nationalisten mit Hitler gefunden, als sich diese an Morden von Russen, Polen, Juden und auch anderen Ukrainern beteiligten.
Putin führte weiter an, dass viele Gebiete der heutigen Ukraine ihr “künstlich” zugeschlagen wurden. Insbesondere sei der Donbass gegen den Willen der lokalen Bevölkerung von den Bolschewiki an die Ukraine angegliedert worden. Nach 1945 habe die Ukraine ferner einige polnische, rumänische und ungarische Territorien erhalten. Der Präsident zog das Fazit:
“Ein echter Garant der ukrainischen Souveränität und territorialen Integrität könnte nur Russland sein. Denn es hat die heutige Ukraine geschaffen.”
Eine weitere Frage hatte den Kampfverlauf zum Thema. Putin erklärte, dass sich an der ursprünglichen Zielsetzung, der Hilfe für den Donbass, nichts geändert habe. Dies sei auch gemeint, wenn in russischen offiziellen Meldungen von einem planmäßigen Verlauf der Militäroperation die Rede ist. Das Gebiet der Lugansker Volksrepublik sei vollständig befreit. Die Einnahme der neuen Gebiete sei zunächst militärischer Logik gefolgt, deren Beitritt zu Russland sei aber die Reaktion auf den Wunsch der dortigen Bevölkerung gewesen. Zu konkreteren Plänen erklärte Putin:
“Was der Generalstab plant, weiß ich natürlich, aber ich glaube, es ist nicht der richtige Anlass, darüber zu sprechen.”
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