Am Dienstagmorgen trat Serbiens Ministerpräsident Miloš Vučević zurück. Wie er in einer Erklärung betonte, sei dieser Schritt ein Entgegenkommen gegenüber Protestlern und Regierungskritikern. Er habe seinen Entschluss nach dem gewaltsamen Übergriff auf zwei Studenten vonseiten der Regierungsanhänger gefasst, teilte er mit. Die Auseinandersetzung begann, als eine Gruppe Protestler das Büro der regierenden Fortschrittspartei angriff.
Seit dem Ende des vergangenen Jahres wird Serbien von Massenprotesten erschüttert. Anlass, aber nicht die Ursache, war die Tragödie in der zweitgrößten Stadt Novi Sad, in der am 1. November ein eingestürztes Vordach des Bahnhofs 15 Menschen unter sich begrub. Der Bahnhof war sechs Monate zuvor umgebaut worden.
Die Proteste, die in Novi Sad begonnen hatten, breiteten sich schnell auf ganz Serbien aus. Die aktivsten Demonstranten waren von Anfang an Studenten, später kamen breitere gesellschaftliche Gruppen dazu. Am Montag haben Tausende Studenten in der bislang spektakulärsten Aktion eine wichtige Verkehrsader der Hauptstadt Belgrad, die sogenannte Autokomanda, für 24 Stunden gesperrt.
Auch am späten Abend waren noch mehrere Zehntausend Menschen vor Ort. Begünstigt durch die milden Temperaturen, blieben nicht wenige die ganze Nacht, es herrschte Volksfeststimmung. Nun drohen die Protestler mit einem Generalstreik. Beobachter sprechen von den größten Protesten seit den Demonstrationen im Jahr 2000 gegen Slobodan Milošević.
Der zurückgetretene Ministerpräsident Vučević beschuldigte ausländische NGOs und sonstige Akteure der Spaltung der Gesellschaft. Bei der Einreichung seines Rücktritts sagte er:
“Die Tragödie in Novi Sad hat die Gesellschaft, die am Rande eines Konflikts stand, tief gespalten. Schulen, Schüler, Lehrer, Eltern – alle sind in Konflikt geraten. Blockaden von Fakultäten, Straßen, Brücken – vieles davon ist im Ausland erfunden worden, sie benutzen unsere Kinder. All dies wurde getan, um Serbien als Staat zu gefährden.”
Auch der russische Politikwissenschaftler und Mitglied des wissenschaftlichen Rates des russischen Sicherheitsrates Andrei Manoilo sieht westliche und vor allem US-amerikanische Strukturen und Organisationen als Drahtzieher hinter der Massenbewegung. Die russlandfreundliche Politik des Präsidenten Alexander Vučić und seine unabhängige Position im Ukraine-Konflikt sei der Grund für Missfallen im Westen.
Wenn Belgrad nicht aufhört, die Russische Föderation zu unterstützen, könnten sich diese Proteste in eine vollwertige Farbrevolution verwandeln, warnte Experte. Die US-Amerikaner handelten oft auf diese Weise.
“In diesem Fall haben wir es nicht mehr mit einer seit zwei Jahren andauernden Protestwelle zu tun, es sieht nicht mehr als ein Signal aus, sondern als Erpressung. Die Proteste sind vom Westen inspiriert und finanziert und werden als Erpressungsinstrument benutzt. Vučić wird faktisch ein Ultimatum gestellt.”
“Entweder ändert Belgrad seinen Kurs in Übereinstimmung mit den Wünschen der Vereinigten Staaten, oder diese Proteste werden schnell mit Geld ausgestattet, neuen Ressourcen und diese Proteste werden in eine echte Farbrevolution verwandelt”, sagte Manoilo.
Der russische Politikwissenschaftler und Balkan-Experte Oleg Bondarenko weist auf die lange Tradition der Studentenproteste im Land hin. Diese hatten auch in den 1960er-Jahren stattgefunden, noch bevor die berühmte 1968er-Proteste Paris überrumpelten. Auch hätten sie oft politische Konsequenzen gehabt. Der Grund dafür liegt ihm zufolge auch in der Besonderheit der serbischen Mentalität, die sich durch tiefes Misstrauen gegenüber der Regierung kennzeichnet.
In den unvollständigen acht Jahren seiner Präsidentschaft sei dies die achte Protestwelle, zählt der Experte. Aber es seien auch die größten von allen. Angesichts der Dynamik der Proteste könnten sich die unregelmäßigen Proteste sehr bald zu etwas Größerem entwickeln.
Jeden Tag schließen sich neue Berufsgruppen den Protestlern an. Die Rechtsanwaltskammer, die Post und das serbische Elektrizitätssystem werden bestreikt. Und fast jeden Tag treten sich neue staatliche Organisationen und Berufsgruppen in den Streik. Für viele Menschen in Serbien steht der tragische Unfall in Novi Sad sinnbildlich für die Missstände, die in Klientelismus, Korruption und fehlender Rechtsstaatlichkeit ihren Ursprung haben. Bondarenko stellt fest:
“Serbien befindet sich in der vielleicht schwersten politischen Krise des letzten Vierteljahrhunderts. Die einzige Chance für die Regierung Vučić besteht darin, so schnell wie möglich und mit minimalen Verlusten aus dieser Krise herauszukommen. Andernfalls könnte es beim letzten Verbündeten Russlands in Europa innerhalb weniger Monate zu einem Machtwechsel in der einen oder anderen Form kommen.”
In der Ansprache an die Nation, die am Dienstagabend im serbischen Fernsehen ausgestrahlt wurde, stellte Vučić mögliche Neuwahlen im April in Aussicht. Eine Entscheidung wird nach zehntägigen Konsultationen getroffen. “Ich werde Konsultationen mit Vertretern der politischen Parteien sowie innerhalb der regierenden Serbischen Fortschrittspartei führen”, versprach Vučić.
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