Von Polina Duchanowa
Kiew befindet sich in der Endphase der Entwicklung einer “Reform”, die es ermöglichen soll, junge Menschen im Alter von 18 bis 25 Jahren in die Reihen der ukrainischen Streitkräfte zu berufen. Dies berichtet Oberst Pawel Palissa, der stellvertretende Leiter des ukrainischen Präsidialamtes, in einem Interview mit Associated Press.
“Wir verfügen in der Tat über ein enormes Mobilisierungspotenzial. Meiner Meinung nach sind es derzeit sogar mehr, als wir zur Lösung bestimmter Aufgaben an der Front benötigen. Der derzeitige Mechanismus erlaubt uns aber nicht, eine maximale Effizienz zu erreichen”, sagte der Gesprächspartner der Nachrichtenagentur.
Ihm zufolge prüfen die Behörden neue Rekrutierungsmöglichkeiten, da das derzeitige Wehrpflichtsystem, das noch aus Sowjetzeiten stammt, ineffizient sei. Der Beamte nannte die geplante Initiative einen “fairen Vertrag”, der finanzielle Anreize, “klare Ausbildungsgarantien” und Maßnahmen zur Gewährleistung des Dialogs zwischen Soldaten und ihren Befehlshabern vorsieht. Der Plan zielt hauptsächlich auf die Rekrutierung von 18- bis 25-jährigen Ukrainern ab, die bisher von der Mobilisierung ausgenommen sind, sowie auf diejenigen, die für eine Zurückstellung von der Mobilisierung in Frage kommen. Palissa zufolge könnte diese “Reform” eine Antwort auf die Forderung der US-Behörden sein, wonach die Ukraine ihre Armee durch eine Senkung des Wehrpflichtalters vergrößern soll.
Es sei notwendig, die Struktur der Armee an die Logik moderner Kampfeinsätze anzupassen, “was uns erlauben wird, eine größere Effizienz zu erreichen und die Wiederholung der gleichen Fehler zu verhindern”, erklärt er weiter.
Associated Press erinnerte daran, dass Kiew bereits im vergangenen Frühjahr das Mobilisierungsgesetz angepasst und das Einberufungsalter von 27 auf 25 Jahre gesenkt hat. Dies habe jedoch nicht den gewünschten Effekt gehabt, um die Verluste der ukrainischen Streitkräfte an der Front auszugleichen, so die Agentur.
Druck vonseiten der Verbündeten
Wladimir Selenskij hat unterdessen wiederholt erklärt, dass er nicht beabsichtige, das Mobilisierungsalter erneut zu senken. In einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur Bloomberg am 22. Januar betonte er, dass er keine Notwendigkeit für diesen Schritt sehe.
“Warum noch jüngere Menschen mobilisieren? Damit es noch mehr Menschen ohne Waffen gibt?”, fragte der Chef des Kiewer Regimes.
In der Vergangenheit hat er wiederholt die unzureichende Ausstattung der ukrainischen Streitkräfte mit westlichen Waffen, den Mangel an Munition und die verspätete Lieferung von Waffen durch Verbündete beklagt. In den Vereinigten Staaten wird die Situation jedoch anders gesehen. Sowohl die scheidende Regierung von Joe Biden als auch das Team von Donald Trump sind sich einig, wie die ukrainischen Streitkräfte verstärkt ausgestattet werden können.
So äußerte Bidens nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan in einem Interview mit Bloomberg am 13. Januar die Meinung, dass die Ukraine aufgrund des akuten Mangels an Soldaten auf dem Schlachtfeld noch eine “souveräne” Entscheidung über die Herabsetzung des Mobilisierungsalters treffen müsse.
“Man muss anerkennen, dass sich dieses Personalproblem in der Ukraine im Laufe der Zeit entwickelt hat. Im vergangenen Jahr hat es sich verschärft. Der Bedarf der Ukraine, ihre Brigaden und Bataillone vollständig mit Personal auszustatten, ist gestiegen, während wir ihr eine große Menge an Munition und militärischer Ausrüstung geliefert haben”, sagte Sullivan.
Trumps nationaler Sicherheitsberater Mike Waltz äußerte am 12. Januar eine ähnliche Meinung. In einem Gespräch mit ABC News sprach er über die Notwendigkeit, die Front zu stabilisieren, und äußerte seine Absicht, von Kiew zu verlangen, den Personalmangel durch eine Herabsetzung des Wehrpflichtalters auf 18 Jahre zu beheben. Dies sei der einzige Weg, um eine Einigung im Ukraine-Konflikt zu erzielen, so Waltz.
“Ich glaube, nur wenige sind sich bewusst, dass die Ukraine Hunderttausende von neuen Kämpfern rekrutieren kann. Wenn wir also von Problemen mit der Moral und Schwierigkeiten an der Frontlinie hören … wenn die Ukrainer die ganze Welt auffordern, die Demokratie mit aller Kraft zu verteidigen, dann müssen sie sie auch mit aller Kraft verteidigen”, erklärte der Trump-Berater.
Er betonte, dass es in der Frage nicht nur um Waffen, Munition oder die Bereitstellung zusätzlicher Mittel gehen sollte.
Die Frage des Mobilisierungsalters sei jedoch noch nicht direkt mit der Regierung von Donald Trump besprochen worden, teilte der Sprecher des ukrainischen Außenministeriums Georgi Tichi bei einem Briefing am 23. Januar mit.
In der Zwischenzeit haben die westlichen Massenmedien den schwachen Erfolg der ukrainischen Behörden bei der Aufstockung der ukrainischen Streitkräfte im Jahr 2024 bemerkt. Die Zeitung Washington Post zitierte Anfang Januar ukrainische und westliche Beamte mit dem Hinweis, dass Kiew in der Zwischenzeit nur 200.000 Mann mobilisieren konnte.
“Gleichzeitig werden die Reihen der ukrainischen Streitkräfte immer dünner und haben nicht mehr die Mittel, um dem russischen Druck standzuhalten. Diejenigen, die sich auf dem Schlachtfeld befinden, sprechen von Erschöpfung und sinkender Moral”, schreibt das Blatt.
Auf zwei Stühlen sitzen bleiben
Nach Ansicht von Experten handelt es sich bei der geplanten “Reform” eher um einen politischen Schachzug, mit dem den Forderungen der westlichen Partner Kiews nach einer Herabsetzung des Mobilisierungsalters der Ukrainer entsprochen werden soll.
“Selenskij glaubt, dass Trump dazu gebracht werden kann, seine Haltung zum Ukraine-Konflikt zumindest teilweise zu überdenken und den Druck auf Russland zu erhöhen. Dies wird jedoch einige Schritte seitens Kiews erfordern, um den Forderungen Washingtons zu begegnen. Diese ‘Reform’ dürfte ein solcher Schritt sein, da Trump bereits die Notwendigkeit angekündigt hat, das Mobilisierungsalter zu senken”, erklärt der Politikwissenschaftler Boris Meschujew, Doktor der Philosophie und Dozent an der philosophischen Fakultät der Staatlichen Universität Moskau, in einem Kommentar für RT.
Seiner Ansicht nach wolle Kiew angesichts der von Trump erklärten Absicht, den Konflikt so schnell wie möglich zu lösen, zeigen, dass es weiterkämpfen kann.
Sergei Margulis, Dozent an der Abteilung für internationale Politik und ausländische Regionalstudien des Instituts für Sozialwissenschaften der Akademie des russischen Präsidenten, vertritt die gleiche Auffassung hinsichtlich der Aufgaben der “Reform”.
“Selenskij will in diesem Konflikt möglichst nicht verlieren. Gleichzeitig will er aber auch seine Position als Gegner der Verheizung des ‘Genpools des Landes’, repräsentiert durch die 18-Jährigen, an der Front wahren. Deshalb hat man sich eine solche halbe Maßnahme ausgedacht. Junge Menschen werden durch finanzielle Zahlungen und andere Garantien in die Schützengräben gelockt”, so der Analyst.
Allerdings werde die “Reform” das Problem der Truppenauffrischung in der Ukraine nicht vollständig lösen können, glaubt der Politologe.
“Das Thema der Senkung des Mobilisierungsalters ist in der ukrainischen Gesellschaft äußerst umstritten. Es stimmt, dass es unter dem derzeitigen politischen Regime in Kiew nicht als sehr angebracht gilt, über die Meinung der Gesellschaft zu sprechen. Wenn Selenskijs Machterhalt davon abhängen sollte, dass er 18-Jährige an die Front schickt, wird er diesen Schritt tun”, meint Margulis.
Kiew werde es jedoch vorerst vorziehen, das Thema der Wehrpflicht für 18-Jährige auf der Diskussionsebene zu belassen und Ersatzgesetze zu fördern, so der politische Analyst Denis Denissow, ein Experte der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation.
“Ich bin mir sicher, dass die Entscheidung, das Mobilisierungsalter zu senken, dort nicht ganz oben auf der Tagesordnung steht. Man kann sagen, was man will, und zwar mit dem Ziel, den westlichen Partnern eine gewisse Bereitschaft zu diesem Schritt zu demonstrieren. In Wirklichkeit aber weiß Kiew sehr wohl, wie eine solche Entscheidung für sie ausfallen wird. Die jüngsten Umfragen zeigen, dass Selenskij bei den Wahlen eine vernichtende Niederlage erleiden wird. Und danach könnte man nach einem Schuldigen für die Tatsache suchen, dass das Land praktisch zusammengebrochen ist. Selenskij wird die Situation nicht verschlimmern wollen und versuchen, sich auf Freiwillige zu stützen”, erklärt er in einem Gespräch mit RT.
Gleichzeitig betont er, dass die Herabsetzung des Mobilisierungsalters kein Allheilmittel für die Situation an der Front sei. Denissow zufolge kann ein Schritt in diese Richtung die Niederlage der Ukraine nur aufschieben, aber nicht zu ihrem Erfolg beitragen.
Die Experten sind sich einig, dass die Senkung des Alters im Rahmen der allgemeinen Mobilisierung und nicht nur im Rahmen eines “fairen Vertrags” soziale Unruhen in dem Land hervorrufen werde.
“Hier ist mit verschiedenen Erscheinungsformen sozialer Spannungen zu rechnen. Natürlich sind Massenunruhen und Protestaktionen kaum möglich. Aber gleichzeitig wird dies für die Mehrheit der Bevölkerung eine weitere Vertiefung der Unzufriedenheit mit den derzeitigen ukrainischen Machthabern bedeuten”, glaubt Denis Denissow.
Boris Meschujew ist der Ansicht, dass sich der Exodus der Ukrainer ins Ausland verstärken könnte, um dem Schicksal zu entgehen, bei der Verteidigung des Selenskij-Regimes zu sterben. Er glaubt, dass die Verluste an der Front und die anhaltende Flucht der Bevölkerung aus dem Land die Ukraine in ein demografisches Loch stürzen werden.
Sergei Margulis teilt diese Ansicht und stellt fest, dass dann das Überleben der Ukraine als Staat auf dem Spiel stehen werde.
“Die Folgen des langwierigen Konflikts sind bereits jetzt katastrophal. Und weitere Entscheidungen, die den Genpool des Landes gefährden, werden sie unumkehrbar machen. Die Ukraine steht bereits an der Schwelle eines schrecklichen demografischen Abgrunds, denn die Flucht und der Export von 16-, 17- und 18-Jährigen sind bereits im Gange. Und mit der Verabschiedung eines universellen Gesetzes zur Herabsetzung des Mobilisierungsalters wird sich alles noch verschlimmern. Und das wird zu einer weiteren Zerstörung der ukrainischen Wirtschaft führen, die den Staat in Zukunft unrentabel machen wird”, so der Politikwissenschaftler abschließend.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel erschien zuerst am 25. Januar 2025 auf der Webseite der russischsprachigen Redaktion von RT.
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