Von Dagmar Henn
Die Wahrheit ist im Krieg schwer zu finden. Nehmen wir die Geschichte mit den Patriot-Raketen: Die ukrainische Regierung erklärt, sie hätte auch Kinschals abgeschossen und ohnehin alles andere; der Bürgermeister von Kiew, Witali Klitschko, stellt sich neben ein Raketenteil, das angeblich von einer abgeschossenen Kinschal-Rakete stammen soll (ist aber dennoch keine fünf Meter groß); im Internet kursiert ein Video, das als Explosion eines Patriot-Systems gedeutet werden kann, das russische Verteidigungsministerium spricht davon, eines zerstört zu haben, und CNN gibt zumindest zu, bei Kiew sei eines beschädigt worden. Was ist nun die Wahrheit?
Die Aktienmärkte scheinen eher der CNN-Version zuzuneigen. Hätte ein Patriot-System eine Hyperschallrakete abgeschossen, was technisch beinahe unmöglich ist, müsste der Aktienkurs der Hersteller Lockheed-Martin und Raytheon deutlich steigen. Er ist eher leicht gesunken. Das ist vor allem deshalb interessant, weil Menschen, wenn es um ihr Geld geht, deutlich vorsichtiger sind, als wenn es darum geht, Nachrichten zu liefern, die Kursreaktionen also mehr über die wirkliche Einschätzung in den USA verraten als die Schlagzeilen.
In den meisten Fällen lautet der vernünftigste Umgang mit solchen Meldungen: abwarten. Wenn das nicht geht, so viele Details wie möglich einbeziehen. Ein Beispiel dafür ist die Geschichte mit der in Polen niedergegangenen Luftabwehrrakete im letzten Jahr, bei der letztlich der exakte Raketentyp die Bestätigung lieferte, dass es eine ukrainische Rakete war. Und andersherum – wenn in solchen unklaren Situationen mit technischen Details gegeizt wird, kann man schon fast auf einen Manipulationsversuch setzen.
Das schwierigste Problem ist die gezielte Täuschung. Nebenbei etwas, das die sowjetische Armee mit besonderem Geschick betrieben hat; da wurden ganze Panzerarmeen ins Gelände gestellt, die reine Fiktion waren. Allerdings, die Voraussetzungen dafür, einen Gegner erfolgreich zu täuschen, sind heute ganz andere, als sie es vor siebzig Jahren waren. Mit ganztägiger Satellitenüberwachung kann es nicht mehr wirklich gelingen, mit einer Mischung aus Attrappen und Funkgeräten den Eindruck von Truppenformationen zu erwecken. Wo ist also Täuschung noch möglich?
Das einfachste Feld dafür wäre die Öffentlichkeit. Wenn Entwicklungen auf der materiellen Ebene, also Bewegungen von Gegenständen und Personen von Punkt A zu Punkt B nicht maskiert werden können, die technischen Informationen weitgehend vorliegen, dann bleibt als der Bereich, bei dem Täuschung eingesetzt werden kann, nur noch der immaterielle – Kommunikation, Koordination, Beziehungen. Den Eindruck zu erwecken, dass Abteilung A und Abteilung B so zerstritten sind, dass sie keinesfalls kooperieren würden, kann dieselbe Wirkung haben wie früher ein Versuch, die Anwesenheit von Abteilung B zu verschleiern.
Auf westlicher Seite sind solche Schritte aber weitaus schwieriger als auf russischer; das wäre womöglich anders, gäbe es eine offene Beteiligung der NATO, die die Grundlage für innere Konflikte liefern könnte – aber selbst dann stünde dem die grundsätzliche Tendenz entgegen, dass der Anschein gegenüber der Öffentlichkeit wichtiger ist als die militärische Aufgabe. Man denke an die verlustreichen ukrainischen Angriffe im vergangenen Herbst, die um den Preis tausender Leben nur den westlichen Gebern Funktionsfähigkeit demonstrieren sollten. Schlimmer noch, die Verlautbarungen aus dem Pentagon und auch die der US-Verbündeten legen nahe, dass die eigene Propaganda von der Überlegenheit der Waffensysteme tatsächlich geglaubt wird; dadurch schrumpft der Spielraum, den Gegner zu täuschen, indem man sich schwächer darstellt, auf nahezu null (die Variante, sich stärker darzustellen, ist bei den heutigen Überwachungsmöglichkeiten fast unmöglich).
Auf russischer Seite sieht das anders aus. Die Informationen, die offiziell aus dem Militär geliefert werden, sind trocken wie die Sahara, während der hyperaktive Raum der Telegram-Kanäle einen leichten Schlag ins Pessimistische hat, sehr emotional reagiert und überall und jederzeit Verrat wittert. Die offizielle Seite stellt erkennbar die militärische Zweckmäßigkeit weit über die gute PR; daraus könnte man auch schließen, dass es keine Hemmungen gibt, eine Zeit lang schlecht dazustehen, wenn sich dadurch ein militärischer Vorteil erzielen lässt.
Wie ist das also, wenn Meldungen auftauchen, dieser oder jener Teil habe zu wenig Munition? Das kann natürlich stimmen; schon allein wegen Murphys Gesetz (das nicht umsonst aus dem Zweiten Weltkrieg stammt). Es muss aber nicht stimmen, weil es ebenso gut ein Versuch sein kann, den Gegner zu täuschen, auch wenn dieser Versuch zwangsläufig in dem Moment endet, in dem sich die erwähnte Munition doch als vorhanden erweist.
Auf der höheren Ebene bräuchte es dann deutlich mehr Aufwand für eine erfolgreiche Täuschung. Ein Aufwand, der groß genug ist, dass das eigene Publikum, die Bewohner der Telegram-Kanäle, schon in völliger Hysterie versinken dürfte, ehe das Ziel erreicht ist. Wobei das augenblicklich interessanteste Ziel darin besteht, dafür zu sorgen, dass die so lange angekündigte ukrainische Offensive genau da aufschlägt, wo man sie haben will; was nur möglich ist, indem man überzeugend eine vermeintliche Schwachstelle präsentiert, die so verlockend aussieht, dass sie jede andere Option schlägt.
Das ist, was mir gestern durch den Sinn ging, als ich die westlichen Schlagzeilen las, Wagner-Chef Prigoschin habe den Ukrainern russische Positionen verraten. Es mag natürlich sein, dass dieser Konflikt echt ist; ist er es aber nicht, dann signalisieren diese Schlagzeilen, dass der kollektive Westen diesen Köder geschluckt hat und nun aktiv daran arbeitet, die vermeintliche Kluft zu vertiefen.
Das Problem dabei ist natürlich, dass man sich einige Monate in die Zukunft projizieren können müsste, um die Wahrheit zu erfahren, oder eben schlicht abwarten muss, bis die Ereignisse sie enthüllen. In der Bewertung der Aussagen Prigoschins sind selbst die klügsten Kommentatoren gespalten. Wenn man allerdings die Richtung der Betrachtung umkehrt, also nicht vom gegebenen Ereignis zur Interpretation geht, sondern überlegt, wem welche Arten der Täuschung unter den gegenwärtigen technischen Gegebenheiten möglich wären, und das Ergebnis lautet, dass die Darstellung innerer Konflikte die vorliegenden technischen Informationen neutralisieren könnte, dann steigt die Wahrscheinlichkeit für diese Version.
Wie man sehen kann, enden diese Überlegungen nie bei einem “es ist”, sondern immer nur bei einem “es könnte sein”. So wie auch die Frage, ob das Patriot-System in Kiew zerstört oder nur beschädigt wurde, ohne direkte Informationen aus der ukrainischen Armee oder eine Aufnahme dieses Geräts nicht beantwortet werden kann.
Es ist vielleicht die Hauptwirkung der beständigen Predigten gegen “Verschwörungstheorien” im Westen, diese Art des Denkens ‒ in der Ereignisse und ihre Bedeutung gewissermaßen in einem Raum der Wahrscheinlichkeiten schweben, ähnlich den um einen Atomkern kreisenden Elektronen ‒ grundsätzlich zu inkriminieren, indem stetig behauptet wird, es gäbe auf jede Frage eine eindeutige, unzweifelhafte Wahrheit, die man sich bei den zuständigen Hausierern namens Faktencheck oder Correctiv abholen könne. Dabei ist diese Art der Wahrheit bezogen auf das Handeln größerer Gruppen von Menschen oder gar Staaten bestenfalls im historischen Rückblick zu haben, wenn alle Archive zugänglich sind.
Davor hilft nur die Betrachtung von Interessen, Logik und Wahrscheinlichkeiten. So wie etwa die Daten, die belegen könnten, dass Ursula von der Leyen von Pfizer gekauft wurde, nicht zugänglich sind, aber allein die Tatsache, dass die Kaufverhandlungen zum “Impfstoff” per SMS stattfanden, und diese daraufhin gelöscht wurden, die Wahrscheinlichkeit dafür in Werte über 90 Prozent katapultiert. Was dann immer noch als “Verschwörungstheorie” gilt.
Und nun viel Vergnügen dabei, selbst darüber nachzudenken, ob das Patriot-System in Kiew beschädigt oder zerstört wurde, und ob Prigoschins Tiraden für einen echten Konflikt oder eine Kriegslist stehen. Denn auch jede Überlegung, die andere vortragen, ist erst einmal nur eine Hypothese, und die Wahrscheinlichkeit, wie nahe diese Hypothese der Wahrheit kommt, muss man sich immer selbst erarbeiten.
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