Als RT DE Mitte März zweimal über das spurlose Verschwinden prominenter Oppositioneller, Intellektueller, Politiker und Journalisten in Kiew berichtet hat, haben wir Taras “Tarik” Nesalezhko nicht namentlich erwähnt. Dem deutschen Leser hätte sein Name von allen Namen derer, die in den ersten zwei Märzwochen teils vom ukrainischen Geheimdienst SBU, teils von Unbekannten verschleppt worden sind, und von denen es bis auf wenige Ausnahmen bis heute kein Lebenszeichen gibt, am wenigsten gesagt. Doch nun rückt der Journalist unerwartet in den Mittelpunkt, gelang es ihm doch als einem der wenigen prorussischen Promis, die Terrorwelle unbeschadet zu überstehen und aus der Ukraine zu fliehen. Jetzt, da er in Russland und in Sicherheit ist, tritt Nesalezhko wieder öffentlich auf und hat einiges über die Zustände in der ukrainischen Hauptstadt zu berichten.
Das ukrainische Publikum kannte Nesalezhko seit dem Jahr 2015 als Rapper, der soziale Themen aufgriff und Maidan-kritisch textete. Mit der Musik kam er zu einigem Vermögen und kaufte sich in den seit April 2003 bestehenden Fernsehsender KRT ein, der in der deutschen Wikipedia-Version als “religiöser Fernsehsender” bezeichnet wird. Unter der Leitung des Künstlers bot der Sender ein weitaus breiteres Programm und entwickelte sich zu einer der Plattformen, auf der Maidan-kritische Oppositionelle in der Ukraine noch zu Wort kamen.
KRT war dann auch der erste ukrainische Fernsehsender, der im Zuge von Selenskijs Kampagne gegen kritische Medien verboten und abgeschaltet wurde. Schon am 30. Juli 2020 wurde diese Entscheidung der ukrainischen Medienaufsicht verkündet. Begründet wurde sie mit der Übertragung der Siegesparade am 9. Mai aus Minsk, obwohl sich der Sender größte Mühe gegeben hatte, alle sowjetischen Symbole unsichtbar zu machen. Außerdem soll sich ein Gast einer Talkshow “homophob” geäußert haben, als er homosexuelle Kämpfer des rechtsradikalen Asow-Bataillons eingeladen hatte.
Ein halbes Jahr später folgte dann der große Schlag gegen oppositionelle Medien in der Ukraine, als an einem Tag unter anderem drei oppositionelle Fernsehsender verboten und abgeschaltet wurden.
Nach dem Verbot seines Senders engagierte sich Nesalezhko als Blogger und Interviewer auf YouTube. Unter anderem präsentierte er mehrmals wöchentlich Gespräche zu aktuellen Themen mit dem Politologen und Intellektuellen Dmitrij Dzhangirow. Bei den Interviews blieb Nesalezhko stets unsichtbar hinter der Kamera, man hörte nur seine Stimme.
Als Dmitrij Dzhangirow Mitte März von Unbekannten zur Aufnahme einer für ihn untypischen Videoansprache gezwungen und anschließend verschleppt wurde, verschwand auch Nesalezhko. Während Dzhangirows YouTube-Kanal und Facebook-Account seitdem für plumpe ukrainische Kriegspropaganda von Unbekannten genutzt wird, wurde der Kanal seines Interviewpartners über Wochen nicht mehr erneuert. Informationen zum Schicksal des Journalisten waren trotz aller Bemühungen nicht zu bekommen.
Am 12. April überraschte Tarik Nesalezhko seine Anhänger zur Erleichterung aller mit einem neu hochgeladenen Video. Darin erzählte er, dass es ihm gelang, in der “schwierigen Phase” unterzutauchen und anschließend auf illegalem Weg die Ukraine zu verlassen. 40 Tage habe er bei guten Freunden gelebt, habe alle SIM-Karten weggeschmissen und sein Äußeres, so weit es ging, verändert. Das habe ihm dann die Fahrt aus der Stadt, während der er mehrmals an Straßensperren kontrolliert wurde, erleichtert.
Das Bild, das er von den aktuellen Verhältnissen in der Ukraine zeichnete, ist indes ein trostloses:
“Es genügt aktuell bereits, kein Anhänger von Selenskij zu sein, um verhaftet zu werden“.
Das trübe, so der Journalist und Musiker, auch die Freude über die eigene Flucht und die vorausschauende Evakuierung der eigenen Familie aus dem Land:
“Es bleibt ein Gefühl der Hilflosigkeit, weil ich für meine Freunde nichts tun kann, die derzeit in Kellern des ukrainischen Gestapo festgehalten werden.”
Eines der Musikvideos von Nesalezhko:
Natürlich wurde Nesalezhko in den Kommentaren sofort mit Fragen nach dem Schicksal der bekannteren Oppositionellen überschüttet, unter anderem auch des erwähnten Dmitrij Dzhangirow. Dazu sagte er in einem der späteren Videos, dass “die, mit denen ich zusammengearbeitet habe”, noch leben würden, er aber, um ihre Situation nicht zu verschlimmern, nicht sagen dürfe, wo sie sich befänden.
Auch die Anwältin Tetjana Montjan hat sich vor kurzem ähnlich geäußert: Es sei ihr verboten, Angaben zum Verbleib eines bestimmten Verschwundenen zu machen, da von ihrem Schweigen dessen Überleben abhänge. Es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis wir die ganze Wahrheit über die Terrorwelle, die Kiew Mitte März 2022 heimsuchte, erfahren werden.
Nach Angaben von Menschenrechtsaktivisten und unabhängigen Beobachtern hat die Zahl der in der Ukraine seit Anfang März spurlos verschwundenen Prominenten bereits ein Tausend überschritten. Am Montag wurde das Verschwinden des Chilenen Gonzalo Lira bekannt, der in den vergangenen Wochen in sozialen Netzwerken aus Charkow berichtet hatte. Auch von ihm fehlt derzeit jedes Lebenszeichen.
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