“Was die neuen russischen Angriffe bedeuten” – unter diesem Blickwinkel sprach ZDF heute mit Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer. Anlass waren die jüngsten russischen Luftangriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur.
Aus Kiews Sicht ist die Lagebeschreibung von Reisner wenig rosig. Dafür ist sie realistisch. Reisner zeichnet sich gegenüber den meisten anderen im deutschen Fernsehen präsentierten Militärexperten eben genau dadurch aus, dass er seine Berichte nicht zugunsten der Ukraine schönfärbt – für deren stärkere Unterstützung durch den Westen er aber stets wirbt.
Über die Luftangriffe sagte er, dass er schon zuvor darauf hingewiesen habe, “dass die Russen in diesem Winter noch einmal enorm die Schrauben andrehen werden, um den Druck weiter zu erhöhen auf die Ukraine. Wir haben jetzt allein im November zwei massive Luftangriffe erlebt in einer Qualität, wie wir sie bis jetzt kaum gesehen haben.”
Mit den Luftangriffen sei die Ukraine “auf der strategischen Ebene” getroffen worden. “Das erste Ziel ist es, den militärischen Industriekomplex der Ukraine nachhaltig zu zerstören.” Damit wolle Russland Kiew die Grundlage nehmen, “faktisch einen langen Krieg” führen zu können.
Zudem sei Moskaus Kalkül, dass sich die Unzufriedenheit der unter Stromausfällen leidenden Bevölkerung gegen die politische Führung in Kiew richten werde.
“Stück für Stück” – Russen rücken unaufhaltsam vor
Zum aktuellen Geschehen an der Front sagte Reisner, dass der befürchtete operative Durchbruch der Russen bei Pokrowsk noch nicht zu erkennen sei.
“Aber man sieht, dass die Front nachgibt und es beschleunigt sich tatsächlich der Rückzug der Ukraine, bemerkenswerterweise in den letzten Wochen, gerade doch erheblich.”
“Stück für Stück” werde von den Russen eingenommen, aber man sehe noch keine Anzeichen für einen “Dammbruch” – “das kann sich aber sehr schnell ändern”, so der Oberst unter Verweis auf historische Beispiele.
An anderen Frontabschnitten im Donbass sind die russischen Truppen in den vergangenen Tagen ebenfalls vorgerückt. “Auch wenn es für den Betrachter, gemessen an der Größe der Ukraine, gering erscheint, so sind es doch signifikante Geländeabschnitte, die hier in russische Hände fallen”, gibt Reisner zu bedenken.
Dazu zählt auch die Stadt Kurachowo, die fast eingekesselt sei. Sie werde in den kommenden Tagen oder Wochen fallen, prognostiziert Reisner.
“Wenn dann dieser Kessel gefallen ist, ist die linke Flanke abgesichert. Das ist der Süden von Pokrowsk.” Zurzeit würden die Russen versuchen, nördlich von Kurachowo weiter vorzustoßen und damit “möglicherweise südlich von Pokrowsk vorbeizustoßen”, um die Stadt in der Tiefe zu umfassen und “sich somit einen Kampf um die Stadt selbst zu ersparen”.
Reisner: Keine Beweise für kämpfende Nordkoreaner
Im Gespräch mit der ZDF-Moderatorin beantwortete Reisner auch die Frage eines Zuschauers, wie der Kampfeinsatz nordkoreanischer Truppen in der russischen Region Kursk zu bewerten sei, von dem westliche Staats- und Regierungschefs, darunter Bundeskanzler Olaf Scholz, zuletzt immer wieder sprachen.
Der österreichische Oberst widersprach diesen Behauptungen:
“Es gibt bis jetzt keinerlei wirkliche Beweise, dass nordkoreanische Soldaten an der Front eingesetzt sind.”
Zudem mache der Fronteinsatz nordkoreanischer Soldaten militärisch keinen bedeutenden Unterschied. Denn Russland habe etwa 640.000 Mann entlang der Front im Einsatz. Die Zahl der Nordkoreaner sei da “verschwindend gering”.
Bei der mutmaßlichen Entsendung nordkoreanischer Soldaten nach Russland gehe es eher um ein Zeichen, das Moskau setzen wolle. Die Botschaft sei, so der Oberst: “Wir haben die besseren Verbündeten, wir haben Nordkorea, das uns nicht nur zum zweiten Mal mittlerweile drei Millionen Artilleriegranaten liefert, sondern sogar Soldaten zur Verfügung stellt.”
Russlands Präsident hat die westlichen Berichte über nordkoreanische Soldaten weder bestätigt noch dementiert. Wladimir Putin betonte, dass es allein Sache der beiden Länder sei, zu entscheiden, wie sie die gegenseitigen Verpflichtungen aus ihrem Beistandsabkommen erfüllen wollen. Andere russische Vertreter – und auch Pjöngjang selbst – hatten wiederum die Behauptung zurückgewiesen, nordkoreanische Soldaten würden sich an Kampfeinsätzen beteiligen.
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