Von Wladislaw Sankin
Berlin-Mitte, Friedrichstraße – beste zentrale Lage der Stadt – der Gendarmenmarkt um die Ecke und bis Unter den Linden sind es nur fünf Minuten zu Fuß. An diesem Tag in der ersten Dezemberhälfte stehen wir vor dem Russischen Haus und es ist kurz vor vier Uhr nachmittags. Es dämmert, der geschmückte Christbaum vor dem Eingang und unaufdringlich leichte Weihnachtsmusik machen die Stimmung feierlich. Papas und Mamas mit Kindern gehen ein und aus, noch ist hier normaler Betrieb: Sprach-, Mal- und Bastelkurse, verteilt über fünf Etagen des Hauses. Aber in zweieinhalb Stunden beginnt im Foyer eine russische Märchenstunde: Djed Moroz – zu Deutsch Väterchen Frost – kommt höchstpersönlich mit seiner Snegurotschka zu Besuch.
Uneingeweihte würden es kaum merken, aber Mitarbeiter des Russischen Hauses fixieren mit ihrem geschulten Auge: Hier braut sich wieder etwas zusammen. Henry Lindermeier und die ersten Mitglieder seiner Gruppe treffen frühzeitig ein. Sie haben vor dem Russischen Haus eine Dauerdemo zwischen 16 und 20 Uhr angemeldet – für ein ganzes Jahr täglich.
In der Regel schwenken sie ukrainische Fahnen und halten Hass-Plakate in der Hand, die etwa besagen, dass Russlands Kultur Tod und Zerstörung bedeutet oder dass Russland ein Terrorstaat sei. Ihr Anführer, Henry Lindemeier, der lockenköpfige Psychotherapeut im Ruhestand, ist besonders fanatisiert. Er spricht gerne auch Menschen mit Kindern an, verwickelt sie in Wortgefechte, aber sein schwerstes Geschütz ist Beschallung. Die Straße ist schluchtartig, was den ohnehin lautgedrehten Ton aus seinem mobilen Lautsprecher vielfach verstärkt.
So kommen Passanten, Besucher und Mitarbeiter des Hauses regelmäßig in den “Genuss” eines Bombenalarms, der ukrainischen Hymne oder spezieller Schmählieder in russischer Sprache. Die Provokationen sind von Meinungs- und Versammlungsfreiheit bedeckt. Aber auch dem Russischen Haus steht in seinem Abwehrkampf eine Reihe ebenso legaler Mittel zur Verfügung. So warnt ein Kundenstopper Kundenstopper Passanten in Signalfarbe Gelb vor Provokationen. Auch wird Lindemeier mit Polizeianzeigen wegen Kinderbelästigung von den empörten Eltern überschüttet. Für den Tag des Neujahrsfestes am 9. Dezember ließ sich das Russische Haus etwas Besonderes einfallen und meldete bei der Versammlungsbehörde seine eigene Demo vor dem Eingang an.
Das schaffte wertvollen Straßenraum auf dem Bürgersteig und vertrieb zumindest für diesen feierlichen Tag die antirussische Mahnwache auf die andere Straßenseite. Die “Gegendemo” bestand nur darin, dass drei bis vier Freiwillige im Eingangsbereich unter Passanten Flyer mit dem Veranstaltungskalender des Russischen Hauses verteilten. Auch in diesem Dezember ist er prall gefüllt: Fast täglich finden hier Filmabende und Konzerte statt, dazu noch mehrere Dauerausstellungen im Foyer und in der ersten Etage. Der Höhepunkt des Monats ist das Klavierkonzert des Preisträgers des Grand-Prix beim Wettbewerb Monte Carlo Piano Masters, Nikolai Kuznetsov, mit Tschaikowski, Liszt und Beethoven im Programm.
Auch ohne diese Promotionaktion zieht das Gebäude Aufmerksamkeit auf sich, viele Passanten bleiben stehen und versuchen zu verstehen, was hier passiert. Viele holen dabei ihre Smartphones heraus und machen Fotos vom festlichen “Jolka-Baum”. Mit jeder Minute wird es hier immer voller. Die feierliche Stimmung strömt aus dem Foyer über den streng bewachten Eingang und macht sich auf der Straße breit. Eine Stunde vor dem Beginn schaltet sich zudem noch eine Schneekanone ein und beschießt den Tannenbaum und die Besucher zur Freude der Kinder mit Schneeflöckchen.
Ein Dutzend Protestler auf der anderen, dunkleren Straßenseite langweilen sich. Einige von ihnen sind in ukrainische Fahnen gehüllt, aber noch unternehmen sie nichts. Es sind mehrheitlich deutsche Männer um die fünfzig herum, unter ihnen nur wenige Frauen. Zur Gruppe gehört ein weiterer Mann mit Kapuze, der unscheinbar etwas abseits vom Eingang mit einer Fotokamera steht. Er wartet auf eventuelle prominente Besucher des Russischen Hauses, um sie danach mit dem Fotobeweis ihrer “Kontaktschuld” in der Presse zu konfrontieren. Doch in dem heutigen Treiben findet er außer Eltern und Großeltern mit Kindern im Alter von zwei bis zehn keine besondere “Beute”.
Kurz vor dem Beginn der Feier mischt sich ein Mitglied der Gruppe in die Besuchermenge und versucht, ins Foyer zu gelangen. Er muss ein Ticket in Form eines QR-Codes vorweisen. Der Störer fliegt auf und muss den Eingang verlassen. Zum Abschied ruft er noch “Slawa Ukraine”. Die Szene wird mir überliefert, denn in diesem Moment war ich schon im Foyer. Als ich vor Ort und Stelle ankam, sah ich nur, wie ein Polizist mit dem Störer redete. Beide wirkten ruhig und unaufgeregt.
Das Anzünden des Christbaums im @RusHausBerlin drinnen, Provokationsversuche draußen. Das weit über 🇷🇺 hinaus beliebtes Neujahresfest für Kinder fand unter massivem Schutz der @polizeiberlin statt. Ein Provokateur versuchte einzudringen und rief #SlawaUkraini (Video 4)#Propagandapic.twitter.com/FfaguGHvOf
— Wlad Sankin (@wladsan) December 11, 2025
Wenig später versucht ein weiterer Demonstrant mit einem Regenschirm in ukrainischem Blaugelb zum Eingang zu gelangen. Das wird ihm verwehrt. Ein Polizist weist ihn darauf hin, dass er als Protestler keine Provokationen im Veranstaltungsbereich tätigen darf. Als Spaziergänger darf er hinüber, als Protestler nicht. Mit dem eingezogenen Regenschirm ist er Spaziergänger, mit dem aufgespannten nicht. An einem Spaziergang ohne blaugelben Schirm über dem Kopf hat der Mann kein Interesse und zieht sich zurück. Er hat heute Pech – es regnet gerade nicht und Schulz vor der Nässe fällt als Begründung weg.
Nur einmal wird die Polizei handgreiflich – als eine Frau aus der Lindemeier-Gruppe nicht einsichtig ist. Zwei Polizisten packen sie gekonnt unter den Armen und tragen sie vorsichtig über die Fahrbahn. Auch ein Beschallungsversuch mit Sirene wird unterbunden. Dann holen die Demonstranten ihre Plakate und Fahnen. Das ist der Höhepunkt ihrer heutigen Kundgebung – ich filme die Szene vom Balkon. Dank geschlossenem Einsatz der Polizei bleibt die Gruppe den ganzen Abend unter der Wahrnehmungsschwelle der Gäste.
Was passiert in diesem Moment im großzügigen Innenraum? Hier im Foyer mit seinem 80er-Jahre-Charme findet ein traditionelles Gesang- und Späße-Programm rund um “Jolka” statt. Zu diesem gehört auch heute das obligatorische Eintreffen von Väterchen Frost und Schneewittchen und das Anzünden der Lichter auf dem “Jolka-Baum”. Dabei müssen die Kinder im Chor den Zauberer mehrfach um sein Erscheinen bitten; das Gleiche gilt für das Anzünden des Jolka. Die Lichter-Technik reagiert nur dann, wenn eine gewisse Lautstärke erreicht wird.
Diese Zeremonie bleibt bei jedem, der es als Kind miterlebt hat, als magischer Moment lebenslang in Erinnerung. Und so wird die Magie dieses Festes von Generation zu Generation achtsam weitergetragen. Ich merke: Auch Dutzende Erwachsene ohne Kinder sind dabei, darunter manche ältere Deutsche. Gemeinsam mit den Kindern tanken sie heute Abend Glücksgefühle. Manche von ihnen können der Versuchung nicht widerstehen und stellen sich nach der Show in die Schlange mit den Kindern, um ein gemeinsames Foto mit Väterchen Frost zu machen. Väterchen Frost muss immer stattlich sein und eine kräftige, bassige Stimme haben. Genau so einer kam an diesem Tag nach Berlin.

Langsam leert sich der Raum. Am Ende bleibt eine Gruppe aus der Presseabteilung des Russischen Hauses. Auch Pawel Izwolskij, der langjährige Leiter der Einrichtung, ist dabei. Die Stimmung ist ausgelassen und fröhlich, Djed Moroz (Väterchen Frost) geht auf die Straße und das Fotoshooting geht mit wenigen Verbliebenen weiter. Ein Protestler von der anderen Straßenseite mischt sich ins Getümmel und fotografiert die Szenerie. Mein Blick trifft sich mit dem Izwolskijs, er zwinkert mir zu. Der Spion denkt, er bleibt unbemerkt, und verschwindet schnell in der Dunkelheit des späteren Abends.
Am nächsten Tag taucht Lindemeier mit seinen Leuten nicht auf, auch an beiden weiteren nicht. Machen sie Urlaub? Wer weiß, welche weiteren Provokationen noch überlegt werden? Auf X ist er Teil des bösartigen NAFO-Netzwerkes und auch die Tage danach bleibt er aktiv und repostet fleißig erlesenste Propaganda. In Ruhe werden das Russische Haus oder russische Künstler wie Star-Sopranistin Anna Netrebko, gegen die seine Gruppe noch am Vortag vor der Staatsoper lauthals protestierte, wohl kaum gelassen.
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