Die syrische Übergangsregierung unter der Führung der Islamistenmiliz Hayat Tahrir al-Scham (HTS) möchte nach Angaben des De-facto-Führers des Landes, Achmed Hussein al-Scharaa (früher unter dem Kampfnamen Abu Muhammad al-Dschaulani bekannt), weiterhin gute Beziehungen zu Russland unterhalten. In einem Interview für den Fernsehsender Al Arabiya deutete er am Sonntag an, dass seine Regierung den Abzug der russischen Militärs aus dem Land nicht unbedingt anstrebe.
Nachdem die militanten Gruppen in Syrien die Kontrolle über Damaskus übernommen und den ehemaligen Präsidenten Baschar al-Assad zum Rücktritt gezwungen hatten, stand das Schicksal der in Syrien auf den Stützpunkten Chmeimim und Tartus stationierten russischen Truppen infrage. Moskau betreibt in Syrien den Luftwaffenstützpunkt Chmeimim und ein logistisches Unterstützungszentrum in Tartus, die beide an der Mittelmeerküste des Landes liegen. Im Jahr 2017 hatten Russland und Syrien einen Vertrag unterzeichnet, wonach russische Militärkontingente 49 Jahre lang in Syrien stationiert werden können.
Zum Verbleib der russischen Militärbasen in Syrien machte der neue Machthaber indes widersprüchliche Angaben. So sagte Al-Scharaa, er erwarte zwar, dass Moskau seine Streitkräfte aus Syrien abziehe. Auf der anderen Seite sprach der ehemalige Milizenchef von “tiefen strategischen Interessen”, die Syrien mit dem “zweitmächtigsten Land der Welt” verbänden.
“Wir wollen nicht, dass Russland Syrien auf eine Weise verlässt, die seine Beziehungen zu unserem Land untergräbt”, erklärte er gegenüber Al-Arabiya, ohne Einzelheiten zu nennen. Alle Waffen in Syrien stammten aus Russland, und viele Kraftwerke würden von russischen Experten verwaltet, betonte er.
Nach Angaben von Al-Scharaa wollen die neuen Behörden in Damaskus Konflikte mit ausländischen Mächten vermeiden. Anfang dieses Monats erklärte er gegenüber Reportern, dass die syrische Führung Russland nicht provozieren wolle und bereit sei, Moskau die Möglichkeit zu geben, die Beziehungen zu Syrien im Sinne der gemeinsamen Interessen neu zu bewerten. Am Montag traf indes eine ukrainische Delegation in Damaskus ein, um über eine künftige Zusammenarbeit zu sprechen. Wladimir Selenskij will die neuen Machthaber seinerseits von der Notwendigkeit des kompletten Abzugs der Russen aus Syrien überzeugen.
In einem Gespräch mit Ria Nowosti am Sonntag erklärte der russische Außenminister Sergei Lawrow, dass die Abkommen, die die Anwesenheit russischer Militärangehöriger in Syrien vorsehen, “gültig” und “im Einklang mit den Normen des internationalen Rechts” geschlossen worden seien. Den Ex-Präsidenten Baschar al-Assad, der nach Russland geflohen ist, kritisierte er. Assad hab nicht vermocht die Erwartungen der Syrer zu erfüllen und das Land wirtschaftich und politisch zu stabilisieren.
Der Diplomat stellte klar, dass Russland bereit sei, die Zukunft seiner Militäreinrichtungen mit den neuen Behörden in Damaskus zu erörtern, sobald die erklärte Übergangszeit, die noch bis zum 1. März geht, abgelaufen sei. Anfang des Monats hatte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow erklärt, Moskau stehe “in Kontakt mit den Vertretern der für die Situation in [Syrien] verantwortlichen Kräfte, und alles wird im Dialog entschieden.”
Etwa zur gleichen Zeit meldete die TASS unter Berufung auf anonyme Quellen, Moskau habe “vorübergehende Sicherheitsgarantien erhalten, sodass die Militärstützpunkte wie gewohnt arbeiten.” Am Sonntag tauchten im Internet nicht verifizierte Videoaufnahmen auf, die russische Wachsoldaten vor der Einfahrt zu einer Militäreinrichtung im Gespräch mit syrischen Milizkämpfern zeigten. Augenzeugen in dem Video sprechen gar von einer gemeinsamen Patrouille.
Mehrere militante Oppositionsgruppen, angeführt von der HTS, starteten Ende November eine plötzliche Offensive. Nach einer fast kampflosen Machtübernahme und dem Sturz der Assad-Regierung kam es landesweit zu Gewaltexzessen vonseiten bewaffneter Gruppen. Erschießungen ehemaliger Soldaten und Polizisten und auch Lynchmorde fanden statt. Zudem gab es Proteste vonseiten der christlichen Bevölkerung, unter anderem infolge der Verbrennung eines Weihnachtsbaums durch Islamisten. Die neuen Machthaber versprachen ihrerseits, die Milizen aufzulösen und für Recht und Sicherheit zu sorgen. Auch die Austragung landesweiter Wahlen und die Verabschiedung einer neuen syrischen Verfassung in den nächsten Jahren wurden in Aussicht gestellt.
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