In der Geschichte der Bundesrepublik gab es noch nie vor einer Wahl eine derart große Unsicherheit über das mögliche Ergebnis. Der Grund dafür ist vor allem, dass sich gleich bei drei Parteien die Frage stellt, ob sie die nötigen fünf Prozent der Wählerstimmen erreichen, um in den Bundestag einziehen zu können.
Bei der FDP ist den Prognosen nach die Wahrscheinlichkeit am Höchsten, dass sie es nicht schafft. Die Linke und das BSW könnten es beide schaffen. Dabei stellt sich auch die Frage, ob die Linke trotz der Abtrennung des BSW die drei Direktmandate halten kann, die ihr 2021 den Einzug in den Bundestag ermöglichten, obwohl die Partei die fünf Prozent nicht erreicht hatte.
Die Direktmandatsklausel war eigentlich bei der Wahlrechtsänderung 2023 gestrichen worden, sie wurde aber im vergangenen Sommer durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorerst wieder in Kraft gesetzt. Der Grund dafür? Die Fünfprozenthürde hätte auch für die CSU gegolten, die formal als eigene Partei antritt; wenn Direktmandate aber nicht gezählt werden, wenn die Partei keine 5 Prozent erreicht, dann hätte die absurde Situation entstehen können, dass die Partei, die in Bayern die Mehrheit der Direktmandate gewinnt, dennoch nicht im Bundestag vertreten wäre.
Für die CDU erweist sich das als Glücksfall. Bei der Bundestagswahl 2021 erreichte die CSU umgerechnet auf ganz Deutschland noch 5,2 Prozent, durch einen Zweitstimmenanteil in Bayern von 31,7 Prozent. Das war knapp genug, dass das Ergebnis bei dieser Wahl durchaus knapp unter fünf Prozent liegen könnte. Wodurch die CDU/CSU ohne die Entscheidung des Verfassungsgerichts eben genau diesen Stimmanteil unter den Umfragen liegen würde.
Jetzt dürfte sie mit ziemlicher Sicherheit als stärkste Partei aus der Wahl hervorgehen, wenn auch, bei den prognostizierten 29 bis 30 Prozent weit entfernt von ihrer früheren Stärke. Noch ausgeprägter ist das bei der SPD, die 2021 noch auf 25,7 Prozent kam, mit den letzten Umfragewerten zwischen 14,5 und 16 Prozent aber zehn Prozentpunkte eingebüßt hat. Die AfD lag zuletzt zwischen 20 und 21 Prozent; hier ist jedoch die Wahrscheinlichkeit am Höchsten, dass die Umfragewerte das reale Ergebnis unterschreiten.
Der nächste Bundestag wird mit 630 Abgeordneten deutlich kleiner als der letzte; die für eine Regierungsbildung nötige Mehrheit liegt also bei 316 Sitzen. Je nachdem, wie vielen der kleinen Parteien Linke, BSW und FDP der Einzug gelingt, könnten zwei Parteien nicht genug Abgeordnete auf sich vereinen, um eine Regierung bilden zu können. Die einzige Ausnahme, die auf jeden Fall für eine Regierungsbildung genügen würde, wird seitens der CDU/CSU ausgeschlossen – eine Koalition aus CDU und AfD hätte auf jeden Fall eine Mehrheit.
Eine Koalition unter Einbeziehung der Grünen wäre in der einen wie der anderen Variante schwierig, weil die CSU das kategorisch ablehnt. Ein Nachgeben ist auch vergleichsweise unwahrscheinlich, da bei zukünftigen Bundestagswahlen auf die eine oder andere Weise das Problem der Fünfprozenthürde eine Rolle spielen wird, und eine Koalition mit den Grünen die CSU dann die entscheidenden Stimmen kosten dürfte, um in der Bundespolitik überhaupt eine Rolle zu spielen. Das gilt nicht nur für eine Zweierkoalition aus CDU und Grünen, die rechnerisch eher unwahrscheinlich ist, sondern auch für eine Dreierkoalition aus CDU, SPD und Grünen.
Die CDU/CSU als Ganzes schließt auch Koalitionen mit der Linken oder dem BSW kategorisch aus. Praktisch bedeutet das, sobald eine CDU/SPD-Koalition nicht genug Sitze erreicht, dürfte die Regierungsbildung ausgesprochen schwierig werden, außer, die FDP schafft es überraschend doch noch in den Bundestag.
Nachdem die AfD als in jeder Konstellation größte Oppositionspartei alleine bereits auf 20 Prozent der Stimmen kommen dürfte, wird es im neuen Bundestag mit hoher Wahrscheinlichkeit mehr Untersuchungsausschüsse geben als im aktuellen; für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses sind nämlich 25 Prozent der Abgeordneten erforderlich. Je nach dem Ergebnis der kleinen Parteien könnten auch Beschlüsse unmöglich werden, die eine Zweidrittelmehrheit erfordern, wie das bei dem 100-Milliarden-Kredit für die Bundeswehr der Fall war (der täuschend “Sondervermögen” genannt wurde).
Der gewählte Bundestag soll sich am 25. März konstituieren; an diesem Tag treten die neuen Abgeordneten ihr Amt an. Solange sich die Regierungsbildung hinzieht, bleibt die alte Bundesregierung weiter im Amt; diesmal mit besonders begrenzten Rechten, da auch der Haushalt für das Jahr 2025 noch nicht verabschiedet ist. 2021 dauerten die Koalitionsverhandlungen 73 Tage; der bisherige Rekord wird von den Verhandlungen nach den Wahlen 2017 gehalten, die mit 171 Tagen fast ein halbes Jahr in Anspruch nahmen. Eine schnelle Regierungsbildung dürfte nur dann zu erwarten sein, wenn alle drei kleinen Parteien scheitern.
Allerdings gibt es auch einen starken Einfluss von außen, der sämtliche Rechenergebnisse noch über den Haufen werfen könnte. Sollten die Vereinigten Staaten ihre Beziehungen zu Russland vollständig normalisieren (und die letzten Wochen haben gezeigt, wie schnell die Regierung Trump agiert), gäbe es einen objektiven Druck für einen Kurswechsel. Ein praktisches Beispiel: Sollte dieser Prozess wenige Wochen dauern, dann würden US-Fluggesellschaften Direktflüge aus der EU nach Russland übernehmen, weil die EU ihnen schwer Überflugrechte verweigern kann. Die europäischen Fluggesellschaften, die schon die Langstreckenflüge nach Asien verloren haben, würden dann diese Routen dauerhaft einbüßen. Ähnlich verhält es sich mit vielen anderen Wirtschaftssektoren.
Die einzige Möglichkeit, einen Kurswechsel zu vollziehen, wäre aber genau die bisher tabuisierte Koalition aus CDU und AfD. Je länger die Bildung einer Regierung dauert, desto höher würde dieser externe Druck, und desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass, gleich, welche Verhandlungen zu Beginn aufgenommen werden, am Ende das Ergebnis doch schwarz-blau lauten könnte.
Es wird also nicht nur am Wahlabend spannend; die Auflösung wird noch etwas auf sich warten lassen.
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