Von Annett H.
Ich bin 50 und in Ostberlin geboren. Meine Mutter ist 84 und war zu Kriegsende erst vier Jahre alt. Meine Großeltern sind mittlerweile gestorben. Jedoch sind folgende Nachkriegsgeschichten durch sie überliefert.
Mein Großvater war Maler und einfaches Mitglied der NSDAP. Er sammelte vor dem Krieg in seinem Wohnhaus in Berlin Parteibeiträge ein. Zwei Kommunisten im Haus gaben nie etwas, und er spendete ein paar Pfennige in ihrem Namen, weil ihm nicht wohl bei dem Gedanken war, was aufgrund ihrer Verweigerungshaltung mit ihnen passieren würde.
Nach dem Krieg holte die sowjetische Armee in der sowjetischen Besatzungszone Mitglieder der NSDAP ab und nahm sie gefangen. Damals (und auch zu DDR-Zeiten) durfte nicht darüber gesprochen werden, aber die Sowjets betrieben das KZ Buchenwald nach dem Krieg weiter und sperrten dort NSDAP-Mitglieder ein. Dieses Schicksal drohte auch meinem Großvater, als er aus dem Krieg zurückkehrte.
Meine Mutter sagt, dass die Russen ins Haus kamen und die Parteimitglieder im ersten und zweiten Stock abholten. Meine Großeltern wohnten im dritten Stock und konnten alles hören. Sie hatten Angst. Aber in den dritten Stock kamen die Russen nicht. Es stellte sich heraus, dass die beiden Kommunisten eine Petition für meinen Großvater unterschrieben hatten, weil er ihnen das Leben gerettet hatte. Und deshalb wurde er verschont.
Sehr viele Jahre später erfuhr ich von der zweiten Frau meines Großvaters (er ließ sich in hohem Alter scheiden und heiratete nochmal), dass er aus dem deutschen Kriegsdienst desertiert und in die Niederlande geflohen war. Er hatte dies niemals jemandem erzählt, außer ihr. Es wäre eine große Schande für ihn gewesen, wenn es vor seinem Tod bekannt geworden wäre.
Nachdem die sowjetischen Soldaten Berlin eingenommen hatten, wurden sie teilweise in deutsche Mietwohnungen bei deutschen Familien einquartiert. Meine Großmutter lebte zu der Zeit mit meiner Mutter in einer relativ großen Wohnung mit drei Zimmern. Der Großvater war noch nicht zurückgekehrt.
Ein Soldat namens Sascha zog in ein Zimmer ein. Meine Mutter, damals vier, erzählt heute noch mit Begeisterung von diesem Sascha, weil er immer etwas für sie dabeihatte, meistens Süßigkeiten. Sie erinnert sich daran, dass ihre Mutter für Sascha und sie Eierkuchen (блины) machte. Meine Großmutter verliebte sich ernsthaft in diesen Sascha und wurde von ihm schwanger.
Da kam dann aber der Großvater “aus dem Krieg” zurück (in Wirklichkeit aus Holland), und sie musste die Schwangerschaft abbrechen. Als Sascha ging, waren meine Großmutter und Mutter sehr traurig. Die Geschichte ist noch trauriger, wenn man bedenkt, dass Stalin viele Soldaten, die deutsche Verhältnisse kennengelernt hatten, als Verräter einstufte und in Gulags bringen ließ. Niemand hat jemals wieder etwas von Sascha gehört, aber der Name hat sich bis zu mir durchgezogen.
Meine Großmutter hat auch erzählt, dass sich die Frauen nach dem Krieg vor den russischen Soldaten versteckten. Sie versteckten sich in Waschküchen und stellten überall Eimer mit Wasser in den Weg, damit die Soldaten darüber stolperten und sich zurückzogen. Es kam zu Vergewaltigungen, aber auch darüber durfte zu DDR-Zeiten nicht gesprochen werden.
Ich selbst kann mich noch daran erinnern, dass im November 1982 (ich war acht) alle Fahnen in der DDR auf halbmast hingen, weil Breschnjew gestorben war, und ich war richtig traurig deswegen.
In den Jahren 1986/87 hatte ich einen russischen Brieffreund aus Saratow namens Boris. Ich war 12/13 Jahre alt und hatte gerade begonnen, in der Schule Russisch zu lernen. Neben Sigmund Jähn war Juri Gagarin mein großer Held. Ich las mit Begeisterung “Timur und sein Trupp” von Arkadi Gaidar.
Für mich war die Sowjetunion immer positiv belegt. Von den Vergewaltigungs- oder KZ-Geschichten erfuhr ich erst nach dem Mauerfall. Im Großen und Ganzen war ich davon überrascht, aber nicht erschüttert.
Es verwundert mich eher, dass uns die Russen für das, was wir in ihrem Land angerichtet haben, nicht immer noch hassen. Dass es trotzdem so etwas geben konnte wie Vergebung und Freundschaft, berührt mich zutiefst. Und dass Europa und Deutschland sich aktuell gegen Russland positionieren, ist für mich peinlich, irritierend und abartig falsch. Ich kann mich nur für meine dumme Regierung entschuldigen.
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