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Helga Lange-Hartmann, Berlin (96)
Vor etwa sechs Jahren hat Hitler gebrüllt: Wollt ihr den totalen Krieg? (offenkundig eine Anspielung auf die sogenannte “Sportpalastrede” von NS-Propagandaminister Joseph Goebbels am 18. Februar 1943 in Berlin; Anm. d. Red.) Und das Volk hat geantwortet: Jaaa! Diese Begeisterung hat sich schnell gelegt und ist in Verzweiflung umgeschlagen.
Unsere Familie besteht aus vier Personen. Mutter und drei Kinder. Unser Vater wurde zum Wehrdienst eingezogen. Er hat in seinem Tabakwarengeschäft am Fischmarkt zu oft den kriegskritischen katholischen Studentenpfarrer Dr. Alfons Maria Wachsmann bedient und ihn des Öfteren in seinem rückwärtigen Kontor empfangen. Mit Geschäftsinteresse konnte er sich gegenüber der Gestapo freireden.
Aber wenige Wochen später wurde er einberufen und kam tief an die russische Front. Mutter ist Luftschutzwart. Sie hat dafür zu sorgen, dass aus unserem Haus kein Licht nach außen dringt und immer Eimer mit Sand und Kübel mit Wasser für den Brandfall bereitstehen.
Wir haben immer Hunger, es fehlt an allem, so auch an Salz. Wir holen uns aus dem Sol- und Moorbad am Greifswalder Schießwall Solewasser, um wenigstens einen kleinen Geschmack in die dünne Suppe zu bekommen. Eine Tante hat ein Briefchen mit Salz geschenkt bekommen, und sie erzählt, sie hätte das Salz sofort gierig verschlungen.
Sehr oft werden wir nachts geweckt. Die entsetzliche Sirene jagt uns mit ihrem aufschwellenden Ton tiefe Ängste ein. So greift jeder nach seinem immer bereitstehenden Notkoffer, und wir stürzen aus den warmen Betten in den kalten Luftschutzkeller. Über uns hören wir das bedrohliche Vibrieren der Kampfgeschwader, die ihre Bombenziele suchen.
Ich bin ein siebzehnjähriges Mädchen. Zutiefst bedrückt mich die ständige Dunkelheit – und die fehlende Fröhlichkeit. Ich vermisse auch die Musik. Im Kino stehen wir lange nach Karten zu dem Film mit Zarah Leander “Es wird einmal ein Wunder geschehen” an.
Mit Mutter ziehe ich in den Hain, und wir sammeln Holzäste und anderes Kleinholz für den Ofen. Das wertvolle Brennmaterial verstecken wir unter altem Laub. Am nächsten Tag kommen wir mit einem gegen ein Fläschchen Öl geliehenen Handwagen wieder hierher, aber unser Versteck ist leer geräumt. Mutter weint laut auf.
Wie viel Kummer bringen jene Feldpostbriefe, die immer häufiger in die Briefkästen gesteckt werden: “Ich habe die traurige Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass ihr Mann/Sohn in soldatischer Pflichterfüllung für Führer, Volk und Vaterland gefallen ist”.
Es herrscht eine immerwährende Düsterheit, die allmählich zum lähmenden Normalzustand wird.
Hoffen auf Kriegsende
Greifswald, Sonntag, 29. April 1945
Überall wird gemurmelt, der Krieg würde nicht mehr lange dauern. Er würde endlich zu Ende gehen. Wir hängen vor dem schwachen Radioempfangsgerät, können aber nichts verstehen, hören nur Rauschen oder, überlagert, mehrere Sender.
Mutter geht ans offene Fenster. Ich stelle mich neben sie. Wir suchen mit unseren Blicken die Straße ab, hoffen auf irgendwelche Neuigkeiten zur Lage. Wir sehen vor vielen Fenstern weiße Fahnen. An der Bordsteinkante stehen keine Autos; die gibt es schon lange nicht mehr. Sie wurden gleich bei Beginn des Krieges eingezogen. Die Straße liegt still. Kein Mensch zu sehen. Erwartungsbange Ruhe liegt über der Stadt.
Im Haus gegenüber öffnet sich die Tür. Frau Dinse hastet auf die Straße, rennt los und entdeckt uns am Fenster, winkt heftig. Das Verpflegungslager ist offen, sie haben wohl die Vorräte freigegeben. Ich will dahin.
Mutter guckt meinen elfjährigen Bruder Dieter an und mich. Sekunden später rennen wir beide die Burgstraße hoch, der Frau Dinse nach. Angekommen vor dem Heeresverpflegungsamt erwarten uns ganze Menschentrauben. Einige hasten mit Verpackungen und Säckchen an uns vorbei, andere drängen hinein.
Wir zwängen uns in die Menge und kämpfen uns, geschoben von aufgeregten Menschen, die grobe Holztreppe zum Boden hoch. Ich staune über die unglaubliche Menge von Kisten, Säcken, Holzkästen und Tonnen voller Lebensmittel jeglicher Art. Wir rollen über Erbsen und rutschen fast aus, versuchen zusammenzubleiben und dabei irgendetwas zu ergreifen.
Dieter schnappt sich einen Sack mit Hülsenfrüchten. Ich ergatter eine Holzkiste mit Vierfruchtmarmelade. Da hören wir Geschrei von hinten: Los, die Russen kommen. Sie sollen schon in Bandelin sein. Es herrscht ein unglaubliches Chaos. Wir kämpfen uns wieder auf die Straße und rennen mit unserer Beute nach Hause. Mutter empfängt uns strahlend.
Aber im Ohr haben wir den Ruf: Die Russen kommen. Es ist zu Ende – nein, es fängt an.
Montag, 30. April 1945
Nun treibt es mich mit Gewalt in die Gützkower Straße, denn aus östlicher Richtung sollen die Russen kommen. Ich mach’ mich auf und laufe zusammen mit meinem Bruder die Burgstraße hoch. Dort, auf der Höhe unseres Kolonialwarenladens Salchow, stelle ich mich zu den anderen Wartenden. Sie stehen in losen Grüppchen und harren geduldig, aber erwartungsgeladen der Russen.
Es herrscht eine bange Stille. Nur ein paar Kinder flüstern. Es ist, als wenn die Welt stillsteht und auf Neues hofft. Nie wieder hab’ ich solche Stimmung erlebt, diese Mischung aus Angst und Hoffnung.
Da, sie kommen, sie kommen!
Irgendwann dann, ich kann die Zeit gar nicht benennen, höre ich Soldaten-Stiefel auf dem Pflaster schreiten. Es kommt Bewegung in die wartenden Menschen vor mir. Dann ziehen russische Soldaten in Viererreihen in ruhigem Gleichschritt an uns vorbei. Ihre Blicke sind nach vorn gerichtet, auf ihr Ziel, russische Soldaten in dunklen Uniformen, ruhig, ohne Getöse, selbstbewusst marschieren sie in Richtung Innenstadt. Das sind keine Feinde, denke ich. Sie bringen uns Frieden und machen uns klar: Wir sind jetzt hier, und das ist gut so, auch für Euch.
Merkwürdig ist, dass sich niemand regt, keiner etwas ruft, es ist still unter den Menschen, die sich dann wieder nach Hause wenden.
Der Krieg ist zu Ende. Nicht zu fassen!
Das wirkt so tief, das kann ich nicht so schnell verarbeiten.
Bis hierher in die Gützkower Straße war ich gerannt, zurück gehe ich ganz langsam und sehr nachdenklich.
Der Krieg ist nun wirklich vorbei. Ich drücke die Hand meines Bruders; der Elfjährige lehnt seinen Kopf gegen meinen Arm.
Erste Friedenszeit
Es wird heller, nicht nur in unserer Straße. Die Decken verschwinden von den Fenstern.
Wir verschließen fest die Haustür mit Zusatzriegel und richten auf dem Boden des Hauses eine versteckt mit Decken abgehängte Nische als Fluchtort für uns drei junge Frauen im Haus ein. Wir drei kleiden uns wie ganz Alte. Die Russen vergewaltigen, heißt es. Und das gibt es, hören wir, tatsächlich, aber das nur in den ersten Wochen. Die einfachen russischen Soldaten dürfen ab jetzt ihre Unterkünfte nur als Trupp verlassen. Wird eine Vergewaltigung angezeigt, droht “standrechtliche” Erschießung. Das Leben normalisiert sich allmählich.
An allen öffentlichen Stellen der Stadt hängen Plakate mit Befehlen. Sie geben uns vor, wo Waffen abzugeben sind, wo wir uns zur Arbeit einzufinden haben, ab wann Ausgangssperren gelten.
Wir haben nach wie vor Hunger. Ich fahre mit dem Rad aufs Land und tausche noch brauchbare Schuhe oder auch Schmuck gegen Eier und Butter ein. Das grüne Rhabarberblatt mit dem dicken gelben Klecks Butter bringe ich wohlbehütet nach Hause.
Wir jungen Mädchen wollen tanzen, endlich! Aber die Männer fehlen, also tanzen wir Mädchen miteinander. In der Stadt sehen wir wenig Soldaten.
1947 kommt Vater aus russischer Gefangenschaft verlaust und abgerissen zurück. Er sagt kein böses Wort über die Russen. Sie hungern dort selbst. Allmählich entsteht zwischen Deutschen und Russen ein sachliches Verhältnis. Manchmal auch durch persönliche Kontakte ein bisschen mehr. Sie haben uns befreit und dafür Millionen Opfer gebracht. Bei uns erwerben Sie sich allmählich Achtung und Vertrauen.
Ich fange an, mich auf das Leben zu freuen.
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