Von Gert Ewen Ungar
Als ich vor sechs Jahren die südrussische Republik Dagestan besuchte, hat es mir dort gut gefallen. Die Republikhauptstadt Machatschkala liegt am Kaspischen Meer, es gibt einen direkten Zugang zum Strand. Die Stadt Derbent weiter im Süden kam mir vor wie ein großes Freilichtmuseum. Sie ist die älteste Stadt Russlands, alles ist historisch, aber gut erhalten. Ich verbrachte dort ein paar schöne und interessante Tage.
Als ich Dagestan in diesem Jahr erneut besuchte, war ich völlig überrascht, was sich inzwischen getan hatte. Insbesondere Derbent hat sich vollständig verändert. Der Charakter des Freilichtmuseums der Stadt blieb erhalten, wurde sogar noch ergänzt und erweitert. Sie wirkt nun wie eine authentische Kulisse zu einem Märchen aus 1001 Nacht. Die gesamte Innenstadt wurde einfühlsam umgestaltet, wobei die schon vorhandenen architektonischen Gegebenheiten als Impulse für ihre Weiterentwicklung genutzt wurden.
Aus einer sehenswerten Stadt von historischer Bedeutung wurde ein Touristenmagnet. Neu entstanden sind zahlreiche Restaurants, Bars und Hotels. Aus der Innenstadt wurden die Autos verbannt. Es entstand eine charmante Fußgängerzone mit kleinen Läden und einladenden Cafés. Die Stadt hat einen zusätzlichen Wirtschaftssektor hinzubekommen: den Tourismus. Das, was in Derbent passiert, passiert derzeit in vielen Regionen Russlands, und das hat einen Grund.
Im Jahr 2020 gab Russlands Präsident Putin den Startschuss zur Entwicklung des Inlandstourismus. Er ordnete die Gründung einer Agentur an und beauftragte die russische Regierung damit, organisatorische und finanzielle Fragen zu lösen, um den Inlandstourismus zu einem für das Land wichtigen Wirtschaftsfaktor zu machen. Die Entwicklung des Tourismus in Russland wurde zu einem der großen Projekte von nationaler Priorität.
Mit der Gründung der Agentur Tourism.RF im Dezember 2020 ging es dann los. Die Agentur entwickelt Infrastruktur, baut Straßen, erschließt Regionen, die bisher schwer erreichbar waren, und eröffnete privaten Partnern staatlich abgesicherte Investitionsmöglichkeiten im Rahmen einer Public-private-Partnership im Bereich des Tourismus. Wert wird dabei auf die Entwicklung eines nachhaltigen, “grünen” Tourismus gelegt. Tourismus soll gleichzeitig dem Schutz und der Pflege des kulturellen Erbes Russlands dienen. Ziel ist zudem, die Binnennachfrage in Russland zu einer tragenden Säule der russischen Wirtschaft auszubauen sowie die Schaffung von Arbeitsplätzen und einer hochwertigen touristischen Infrastruktur.
Auf dem Petersburger Economic Forum im Juni forderte Präsident Putin, die Entwicklung zu beschleunigen. Ziel ist es, bis 2030 die Zahl der Buchungen von 73 Millionen im Jahr 2022 auf 140 Millionen zu erhöhen, also nahezu zu verdoppeln. Rechnerisch bedeutet das, jeder Bürger Russlands soll einmal im Jahr eine Reise im russischen Inland machen.
Große Unterstützung bekam die Russische Föderation von ganz unerwarteter Seite. Mit dem Sanktionsregime der EU, dem erschwerten Zugang zu Visa für den Schengenraum für russische Staatsbürger, den offenen Schikanen gegen Russen und aus Russland stammende Personen wurde die EU als eines der bisher wichtigsten Reiseziele der Russen mit einem Schlag unattraktiv, sie fällt als solches inzwischen fast komplett aus. Die bei Russen beliebten Urlaubsziele Spanien, Frankreich und Italien haben das Nachsehen.
Für Russland hat das EU-Sanktionsregime den Vorteil, dass zumindest in diesem Bereich Mittel nicht ins Ausland abfließen. Das Geld bleibt im Land und trägt in Russland zum Wachstum bei.
Wer durch Russland reist, sieht, wie erfolgreich das Konzept ist. Die Russen entdecken dank des Projekts ihr eigenes Land, erfahren seine Geschichte vor Ort, erleben seine Vielfalt und Schönheit. Sie müssen sich hier zudem nicht davor fürchten, russophob angegangen zu werden, und die Sprachbarriere fällt weg. Russland hat auch in diesem Bereich durch westliche Sanktionen hinzugewonnen.
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