Von Dora Werner
Die zeitgenössische russische Gastronomie ist fast aus dem Nichts entstanden. Wer in den 1990er Jahren in Russland war, wird nicht glauben, dass dies heute Realität ist: Wo einst schäbige Selbstbedienungskantinen standen, hat sich eine neue gastronomische Industrie und Vermarktung entwickelt. Eine, auf die New York und Paris durchaus neidisch sein könnten. “Das ist ein aufregender Wandel! Was Italien in 50 Jahren aufgebaut hat, hat Moskau in 15 Jahren geschafft. Als ich hierher kam, waren Kirschtomaten und Basilikum die leckersten Zutaten”, sagt der Patriarch der italienischen Küche, Nino Graziano, in einem Gespräch mit der Zeitschrift Afisсha. Und dann erzählt er von der erstaunlichen Küche und einer Kochschule, die es heute in dem Land gibt.
Für die Menschen in den russischen Städten waren sie die Stars der letzten Jahre – die russischen Gastronomen. Dann kam der Februar des Jahres 2022 – und es war unklar, ob diese gute Gastronomie in Russland überhaupt überleben könnte. Zu viele Lieferungen von Waren und Zutaten kamen aus dem Ausland, zu viele ausländische Köche und Unternehmer, die auf diesem Gebiet arbeiteten, gab es in Russland.
Doch jetzt, nach vielen Monaten der andauernden und neuen Sanktionen, ist klar: Die Branche hat das Ganze nicht nur überstanden, sondern erlebt gerade hier und jetzt einen neuen Qualitätssprung.
Die Sanktionen haben die russischen Gastronomen hart getroffen – aber sie haben dabei gelernt, sich selbst und ihr Metier zu verändern, nach neuen Wege zu suchen – und das ist ihnen in Rekordzeit gelungen.
“Ich denke, in dieser neuen Realität muss man versuchen, so flexibel wie möglich zu sein, sich den Umständen anzupassen, an eine bessere Zukunft zu glauben und seine Gäste zu schätzen”, sagt Aleksandr Schtepa, Chefkoch des Moskauer Restaurants Londri, in einem Interview mit dem Portal Bureau 247. Sein Restaurant hat im Laufe der vergangenen Monate das Wegbleiben von Kunden erlebt, die das Land verlassen haben, den Bruch der Lieferketten mit den bisherigen westlichen Lieferanten und eine merkliche Veränderung im Verhalten der Stammkunden. Die haben begonnen, weniger auszugeben, sorgsamer mit ihrem Geld umzugehen – und plötzlich günstigere Weine zu trinken. Wie das Restaurant in dieser neuen Realität lebt, beschreibt Aleksandr so:
“Wir haben viele Stammgäste. Wir versuchen, nicht nur Essen zu servieren, sondern eine besondere Atmosphäre zu schaffen. Durch Service, Kommunikation und die Tatsache, dass wir uns persönliche Vorlieben merken. Ein Gast mag zum Beispiel einen bestimmten Tisch und trinkt immer warmes Wasser ohne Kohlensäure, aber mit Limette. Und der Kellner merkt sich das. Das schafft ein Gefühl der Geborgenheit: Wenn man dich kennt, deine Gewohnheiten gemerkt hat und du die gleiche Qualität bekommst, die du vor ein, zwei Tagen gegessen hast. Es ist, als würde man dieselbe Lieblingsserie noch einmal anschauen – weil man weiß, was als Nächstes passieren wird. Manchmal fehlt nun dieses Gefühl der Stabilität, aber wir versuchen, es zu vermitteln.”
“Schnelligkeit, Flexibilität, Emotionen und der Drang nach Neuem” – das ist in etwa das Motto, nach dem die Gründerinnen der Kette Eggselent, Polina Jurowa und Swetlana Michalewa, heute leben. Im Jahr 2017 haben sie ein Konzept eines “Aufbau-Frühstücks” entwickelt, das auf Eierspeisen basiert. Innerhalb weniger Jahre haben sie Eggselent zu einem riesigen Erfolgsprojekt gemacht – vor dem täglichen Öffnen der Filiale in Moskau bildeten sich dort bereits lange Schlangen.
Interessanterweise richtete sich Eggselent ursprünglich an die so genannte “Klasse der Kreativen” – also eher junges Publikum mit kreativen Berufen wie IT-Fachleute, Werbe- und Marketingvertreter. Gerade sie waren es, die nach dem Beginn der speziellen Militäroperation in der Ukraine – und nach der Ankündigung der Teilmobilmachung – teils russische Großstädte fluchtartig verließen und ins Ausland gingen. Die Restaurantgründer sahen sich daher mit einem Exodus von solchen Kunden konfrontiert. “Irgendwann gab es bei allen einen Kundenrückgang”, sagen Polina Jurowa und Swetlana Michalewa und erklären dazu:
“Im September letzten Jahres wählten viele eine Sparstrategie – auch wenn die Gäste nicht abwanderten, zogen sie es vor, Geld zu sparen. In dieser Zeit optimierten wir unsere Kosten und begannen, nach neuen lokalen Anbietern zu suchen, mit denen eine Zusammenarbeit interessant wäre. Wir begannen darüber nachzudenken, wie wir ein neues Publikum ansprechen können, wie wir diejenigen erreichen können, die noch nichts über unsere Marke wissen.”
Schnelle Lösungen und ständige Anpassungen – das ist nun die Strategie der jungen russischen Gastronomen. “Wir haben die Möglichkeit, flexibel zu sein, und wir versuchen, das Beste daraus zu machen”, so die Gründerinnen von Eggselent.
Wein, Bier, gegrillte Farne und nördliche Kiwi
Würzige Kastaniensuppe aus der Adyge von den kaukasischen Tscherkessen, duftender Krim-Tee und getrocknetes Rotwild von irgendwoher in Sibirien: Je mehr Russland durch Sanktionen stranguliert wird, desto schneller entwickeln sich die lokalen Produzenten und mit ihnen deren Küchenkünste. Das Verschwinden ausländischer Lieferanten hat russische Landwirte und Gastronomen dazu gezwungen, die einheimische Erzeugung zu beginnen oder zu steigern.
Nun scheint es für Russlandreisende zu einem besonderen Sport geworden zu sein, durch die Orte und Regionen “kulinarischer Highlights” zu schlendern. Und jeder Ort bietet seine eigenen Besonderheiten. Der Ferne Osten zum Beispiel hat eine ganz eigene Spezialität: Den ortsüblichen Farn. Er wird gesalzen und in jeder Form serviert – in Salaten, mit Würstchen, in Suppen und sogar in Omeletts. Richtig gekocht schmeckt der Farn so ähnlich wie Pilze, sagen diejenigen, die diese Spezialität probiert haben. Auf der Krim probiert man die Rosen- und Hartriegelmarmelade, in Jakutien und Burjatien Stroganina – das sind tiefgefrorene dünne Scheiben von frisch gefangenem Fisch, die in Salz und eine spezielle Soße getunkt werden. In Primorje isst man Smaragd-Aktinidien, die “nördliche Kiwi”, und in Sotschi fangfrische Schwarzmeer-Muscheln.
Hunderte von kleinen – und auch gar nicht so kleinen – Brauereien sind in den letzten Monaten im Land entstanden, einige von ihnen sind einzigartig. Die Brauerei Brewlok in Woronesch zum Beispiel braut Biere – darunter auch Buchweizenbiere –, deren Sorten nach Figuren aus russischen Märchen benannt sind.
In Krasnodar wird ein starkes Kirschbier gebraut, das zwei Jahre lang in Brandy-Fässern reift. AntiFactory Brew aus Sankt Petersburg stellt ein dickes Imperial Stout und Exoten wie Oatmeal Stout mit Vanille und heißer Schokolade her. Die Salden’s Brewery in Tula hat bisher mehr als 500 Biersorten erfunden. Die erfolgreichsten Kombinationen sind legendär. Hazelnut Stout (ein dunkles, herb-süßes, nussiges Bier) und American Bastard IPA mit einer spürbaren Bitterkeit sind die eindeutigen Bestseller.
Andere Nutznießer der westlichen Sanktionen sind die russischen Winzer. Nach dem 24. Februar des Jahres 2022 bekam der russische Weinbau eine echte Chance. Und es begann ein Boom der russischen Weine, sowohl derjenigen, der von den großen Fabriken in Südrussland – in der Region Krasnodar und auf der Krim – produziert werden, als auch der kräftigen Weine, die auf kleinen Weingütern erzeugt werden. Selbst Regionen, die früher wenig im Weinbau engagiert waren – wie etwa Dagestan – haben begonnen, ihre eigenen guten Weine zu produzieren. “Der russische Weinbau ist ein Baby”, sagt Iwan Jegorow, Sommelier des Jahres 2022 in Kasan, in einem Gespräch mit der Internetzeitung Realnoje Wremja, “wir werden sehen, was daraus wird”. Und er fügt hinzu:
“Viele Leute interessieren sich jetzt für den russischen Weinbau. Und das ist sehr erfreulich. Probleme gibt es genug: Unsere Winzer haben es schwer, denn aus kommerzieller Sicht ist es ein sehr unrentables Geschäft. Es dauert Jahrzehnte, bis sich die Investitionen rentieren. Deshalb kann in unserem Land nur noch jemand investieren, der es sich leisten kann, ohne eine schnelle Rendite zu erwarten.”
Die “strafenden” Sanktionen haben die russischen Gastronomen also vielmehr angespornt, “lokaler” und damit zugleich besser zu werden, so schreibt die Restaurantkritikerin Swetlana Kesojan in ihrer Rubrik für Moskvich.mag:
“In Moskau werden jeden Tag neue Restaurants und Bars eröffnet. In den neuen Lokalen herrscht reger Betrieb, und es gibt nicht viele freie Plätze. Die ‘älteren’ Restaurants, in denen man früher mindestens ein paar Tage im Voraus reservieren musste, kann man jetzt problemlos besuchen und dort essen. Sie sind nicht leer, aber sie sind freier geworden.”
Den Überblick über die Neueröffnungen und Schließungen von Moskauer Restaurants zu behalten, sei ein Sport, sagt sie. In den neuen Restaurants dominieren der Geschmack des Ostens und die russische Küche. Kesojan stellt fest, dass “die nahöstliche Küche mit ihren Fladenbroten, Mezzes, Tajines und Kebabs” der modernen Nachfrage entspricht — so etwas war noch vor ein paar Jahren unvorstellbar, da die russische Gastronomie absolut westlich orientiert war.
Und was man außerdem nicht vergessen darf: Die ausländischen Köche verlassen Russland ja auch noch nicht – sie durchleben diese Zeit gemeinsam mit ihren Kunden. “Sie alle lieben ihre Arbeit sehr”, sagt Nino Graziano über seine italienischen Kollegen hier in Russland. Und fügt hinzu: “Auf die gute italienische Küche wird man da sicher nicht verzichten müssen.”
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