Von Tom J. Wellbrock
Nehmen wir das Beispiel einer Vergewaltigung, dann sind Täter und Opfer schnell ausgemacht. Betrachten wir die Entwicklung, die zu dieser Vergewaltigung geführt hat, so könnten wir in Schwierigkeiten geraten, weil sich Aspekte zeigen könnten, die der hundertprozentigen Zuordnung von Tätern und Opfer zumindest etwas im Wege stehen. Womöglich müssten wir dann abwägen, ob die Rollenverteilung noch immer so stimmig ist, wie wir anfangs angenommen haben. Stellt sich womöglich sogar heraus, dass es die Vergewaltigung gar nicht gegeben hat und die Behauptung lediglich als Mittel der Machtausübung des vermeintlichen Opfers diente, kehren sich die Rollen vollständig um. Nun ist es der vermeintliche Täter, aus dem das tatsächliche Opfer wurde. Er kann seinerseits gleichfalls über die Opferrolle Macht ausüben.
Die Macht des Opfers
Warum dieses Beispiel der Vergewaltigung? Es soll zeigen, dass Täter und Opfer nicht immer einwandfrei zu definieren sind oder Faktoren in die Betrachtung einziehen können, die zu einer neuen Einordnung führen.
Und womöglich erleben Sie, liebe Leser, an dieser Stelle bereits ein erstes Rumoren in sich. Vielleicht denken Sie sinngemäß: Eine Vergewaltigung ist eine Vergewaltigung, die Rollen sind klar verteilt. Wer etwas anderes behauptet, legt sich den Täter als unschuldiges Wesen zurecht – mehr noch, er rechtfertigt dessen Tat. Man denke dabei an den Hinweis, ein Vergewaltigungsopfer habe die falsche Kleidung getragen, es müsste also schon vor der Tat damit gerechnet haben, dass es passiert. Hätte das Opfer sich weniger aufreizend angezogen, wäre womöglich nichts passiert.
Diese Relativierung des Täters ist natürlich vollkommen absurd! Dennoch kann es Situationen geben, die aus einer scheinbar eindeutigen Vergewaltigung einen Fall machen, den man sich genauer anschauen muss, weil das Offensichtliche so offensichtlich nun auch wieder nicht ist.
Wie auch immer Sie persönlich auf dieses Beispiel reagiert haben, so macht dies doch deutlich, dass die Rolle des Opfers durchaus komfortabel sein kann (gut möglich, dass sie jetzt schon wieder zucken, denn der allgemeinen Wahrnehmung nach befindet sich ein Opfer nicht in einer komfortablen Lage).
72 Geschlechter, 72 Opfer
Nicht erst, seit Bundespolitiker in Berlin voller Stolz und in grenzenloser Toleranz die erste Regenbogenfahne gehisst haben, ist klar: Schwule, Lesben, Non-Binäre und all die anderen, denen eines der inzwischen als gesetzt geltenden 72 Geschlechter zugeordnet wird, sind die Opfer der Gesellschaft. Sie werden ausgegrenzt, diffamiert, lächerlich gemacht und nicht als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft anerkannt. Eine große Mehrheit ist für diese Verfehlung zuständig, und Politiker hissen genau aus diesem Grund die Regenbogenfahne: Sie kämpfen für die Opfer, wollen Toleranz und Respekt erzwingen und sind bereit, dafür zu harten Maßnahmen zu greifen.
Was nobel klingen mag, ist jedoch das Gegenteil. Dazu kommen wir gleich. Doch zunächst die Frage aus einem Forum, die inzwischen zwei Jahre zurückliegt:
“Ich akzeptiere LGBTQ natürlich voll und ganz und unterstütze auch Leute, die zu LGBTQ gehören und hab auch Freunde, die z.B. trans- oder bisexuell sind. Aber ich verstehe das nicht mit den 72 Geschlechtern. Meiner Meinung nach gibt es nur 2 Geschlechter. Das weibliche und das männliche. Wenn man bei Leuten zwischen die Beine guckt sieht man doch auch nur 2 verschiedene Geschlechter oder????”
Die meisten der Antworten waren ziemlich pragmatisch und unaufgeregt:
“Ja, was die Geschlechtsorgane angeht gibt es nur 2 Möglichkeiten, entweder Mann oder Frau.
Was wahrscheinlich eher gemeint ist, ist, als was sich die Personen identifizieren, unabhängig von den Geschlechtsorganen.
Ist generell ein kompliziertes Thema, find’ ich. Gerade auch mit den vielen Pronomen, die man ja für sich ‘erfinden’ kann.”
Oder:
“Das sind Identitäten und damit – aus meiner Sicht – weitgehend irrelevant.
Geschlechter gibt’s 3. Auch wenn man argumentieren kann, dass das Dritte auch nur Aspekte der zwei anderen hat. Aber wenn man’s nicht eindeutig zuordnen kann, ist es eben jetzt das sogenannte dritte Geschlecht, also divers. Das ist soweit auch wissenschaftlich belegt. Die 72 Identitäten eher … weniger. Aber jeder, wie er will.”
Oder auch:
“Das, was du meinst, ist das Geschlecht. Von 72 Geschlechtern wird nie gesprochen, sondern von Geschlechtsidentität. Geschlechtsidentität ist das, was man fühlt. Geschlecht ist das was man hat. Geschlechtsidentität und Geschlecht können übereinstimmen, müssen aber nicht.”
Wie gesagt: alles ziemlich pragmatisch, was auch damit zusammenhängt, dass queere Themen vor zwei Jahren eher Randerscheinungen waren. An der Diskussion der Antwortgeber lässt sich leicht ablesen, dass niemand der Antwortenden der Frage der 72 Geschlechter eine emotionale Bedeutung beimisst. Man spricht über ein gesellschaftliches Randphänomen, das nicht dazu taugt, sich im Forum die Köpfe einzuschlagen. Auch die Unterscheidung zwischen Geschlecht und Geschlechtsidentitäten wird unaufgeregt besprochen. Man kann diese Debatte als vorbildlich bezeichnen, weil sie wertfrei an das Thema herangeht.
Ganz anders heute, im Jahr 2023. Die Frage nach der Geschlechtsidentität bestimmt das gesellschaftliche Leben in einem Ausmaß, das viele ärgerlich finden. Aus einem Nischenthema, das nur eine kleine Minderheit betrifft, wurde eine Art Religion gemacht. Von jedem wird erwartet, dass er in Regenbogenfarben denkt und spricht, und wer von den freundlichen und bejahenden Kommentierungen abweicht, ist rechts, ist ein Nazi, ein Rassist oder was sonst noch alles.
Der Unterschied zu damals: Wer auch immer sich einem der angeblichen 72 Geschlechter zuordnete, sollte das eben tun (“Aber jeder, wie er will.”), es spielte keine übergeordnete Rolle, sondern wurde unter der Rubrik “Von mir aus” abgehakt. Heute muss man sich positionieren, und zwar positiv und wohlwollend. Der, die oder das Non-Binäre ist somit von einem akzeptierten Exoten zu einem schützenswerten Opfer geworden. Und genau da liegt der Hase im Pfeffer.
Schützenswerte Exoten
Allein die Bezeichnung des “schützenswerten Exoten” ist im Grunde schon ein Skandal. Wie kann der Autor nur von “Exoten” sprechen? Es geht hier um Opfer der Ausgrenzung, der Diffamierung, um das Nichtakzeptieren individueller Lebensentscheidungen. Damit hat das Opfer recht. Es hat recht, und wer es anders sieht oder sich nicht dafür interessiert, der muss ein Täter sein. Denn die Opferrolle funktioniert nur, wenn es auch einen Täter gibt.
Somit sind den Freiheiten der Opfer kaum Grenzen gesetzt. Erst kürzlich wurde in den sozialen Medien darüber intensiv gestritten, ob es für andere Kulturen ertragbar ist, wenn eine Frau im Sommer an einer Kugel Eis leckt. Es könnte, so der Vorwurf, Menschen anderer Kulturen “nervös” machen und sei daher zu unterlassen. Freilich gab es Widerstand gegen diese Haltung, doch das ist kaum verwunderlich, weil zahlreiche Menschen überhaupt nicht einsahen, syrische Männer (wie in diesem konkreten Beispiel) als Opfer anzuerkennen. Dennoch waren die Kritiker schnell als intolerante Rassisten ausgemacht. Der beispielhafte Syrer sollte von bestimmten Kreisen in die Opferrolle gehievt werden, was in diesem Fall jedoch nicht vollständig gelang.
Queere Menschen haben sich in ihrer Opferhaltung zu weiten Teilen inzwischen eingerichtet. Und während die Eis essende Frau groß diskutiert wurde, ist es längst eine Selbstverständlichkeit geworden, dass wir auf dem Christopher-Street-Day halbnackte Wesen sehen, deren Geschlechtsteil nur noch mäßig verdeckt wird, selbst wenn Kinder in der Nähe sind. Das Opfer kann sich das rausnehmen, wenn seine Rolle intensiv genug vorbereitet und gepflegt wurde.
Das ist auch der Grund dafür, dass ein junges Mädchen in einem Interview erläutern kann, dass sie gar kein Mädchen, sondern ein junger Fuchs ist. Die junge Frau hat das Selbstvertrauen, das so öffentlich zu tun, weil sie faktisch unangreifbar ist, man muss es akzeptieren und tolerieren, weil es eben ihr Lebensentwurf, ihre Identität ist. Wer das anzweifelt oder gar für verrückt hält, ist ein Täter und damit im Unrecht.
Opfer des Krieges
Besonders deutlich wird die Bedeutung von Opfern und Tätern beim aktuellen Ukraine-Krieg. Vor dem 24. Februar 2022 fand die Ukraine in den deutschen Medien faktisch nicht statt. Kaum jemand wusste etwas über das Land, und die angeblich so innige Beziehung, die nach Beginn des Krieges politisch und medial gepflegt wurde, war – wenn es sie denn gab – kaum jemandem bekannt.
Ende Februar 2022 änderte sich das bekanntlich. Von nun an galt die Erzählung der demokratischen Ukraine, die unsere “Werte” (die im Übrigen nirgends niedergeschrieben wurden) verteidigt. Sämtliche negativen Aspekte der Ukraine wurden konsequent ausgeblendet, die Geschichte vor dem Beginn des Krieges wurde entweder idealisiert, durch Weglassen von Informationen verklärt oder gleich ins Gegenteil verkehrt.
Dafür ein Beispiel: Es dauerte nicht lange, da war den politischen und medialen Kommentatoren klar, dass die Maidan-Proteste im Jahr 2014 eine unangenehme Seite hatten: Sie waren organisiert und finanziert durch den Westen, in erster Linie durch die USA. Im Zuge der verfassungswidrigen Vertreibung des Präsidenten Wiktor Janukowytsch entstand in der Ostukraine und auch auf der Krim Widerstand. Die Vorstellung, vom neuen Kiewer Regime regiert zu werden, machte den russischstämmigen Menschen in diesen Gebieten Angst.
In den kommenden Jahren griff Kiew kontinuierlich den Donbass an, viele Menschen starben, was auch durch die UNO bestätigt wurde. Die westliche Erzählung konnte also den Krieg gegen Gebiete in der Ost-Ukraine nicht leugnen, er war historisch belegt. Allerdings passten die Rollenverteilungen nicht, denn wenn die Ostukraine das Opfer war, konnte der Westen naturgemäß nur der Täter sein.
Und so wurden die Rollen neu verteilt – durch einen perfiden Trick, der jedoch nur möglich war und ist, weil die offensichtliche Lüge politisch und medial unterstützt wurde. So wurde seit dem Ausbruch des Krieges an der Opferrolle der Ukraine gefeilt, inklusive Lügen, Verfälschungen und Weglassen historischer Ereignisse. Die Folge ist eine schon als pathologisch zu bezeichnende Unterstützung der Ukraine durch den Westen.
Noch ein Beispiel, das aktuell ist und sich in die Reihe weiterer menschenverachtender Maßnahmen einreiht, ist folgendes: Die USA haben der Ukraine Streumunition geliefert, die diese auch schon eingesetzt hat. Bis dahin galt der Einsatz dieser Munition weltweit in den meisten Ländern als geächtet. Nun aber sollen “sichere” Streubomben zum Einsatz kommen (was blanker Hohn ist), doch das ist nicht einmal der schlimmste Punkt.
Die Duldung oder Unterstützung des Einsatzes von Streumunition durch die Ukraine ist nur möglich, weil sie als Opfer in Position gebracht wurde. Das Opfer – so die Logik – hat jedes Recht, jedes Mittel zur Verteidigung gegen den Täter einzusetzen. Die Fragen nach den Folgen, den Opfern, der Bedeutung für den weiteren Kriegsverlauf, sie alle werden ausgeblendet, weil man dem Opfer beistehen muss. Auf diese Weise können schlimmste Verbrechen als notwendige Abwehrmaßnahmen gerechtfertigt werden.
Täter und Opfer: Das Gegenteil von Diskurs
Die Aufteilung von Tätern und Opfern verhindert jede Form der zielführenden Auseinandersetzung. An den genannten Beispielen lässt sich erkennen, dass diese Aufteilung lediglich dazu dient, die Kluft der Kontrahenten zu vertiefen.
Es ist daher fatal und ein illegitimes Mittel der Politik, durch die Zuteilung besagter Rollen eine Mauer zwischen den Menschen zu errichten, die jegliche Kommunikation und mögliche Übereinkunft verhindert. Das heutige Problem bei Auseinandersetzungen besteht in der Tatsache, dass schon in der Diskussion unbewusst eine Positionierung als Opfer stattfindet, der sich die Beteiligten nicht bewusst sind. Da allgemein anerkannt ist, dass das Opfer im Recht ist und sich mit (fast) allen Mitteln zur Wehr setzen darf, ist die Opferrolle eine komfortable Rolle, die nicht nur die eigene Position erhebt, sondern der anderen ihre Berechtigung abspricht, weil sie mit der Sicht eines Täters gleichgesetzt wird.
Solange der Diskurs über die Einteilung von Opfern und Tätern geführt wird, ist es kein Diskurs, sondern eine zwischenmenschliche Kriegshandlung, die auf Sieg und nicht auf Verhandlung und Einigung setzt.
Das Anerkennen der Unterschiede von Positionen und der Versuch, sich in die Perspektive des Gegenübers hineinzuversetzen, bieten einzig die Möglichkeit, sich aus der festgefahrenen Debatte zu befreien. Dies kann nur “von unten” gelingen, denn ähnlich wie bei der bewusst durch Politiker und Medien herbeigeführten und dauerhaften Angst der Menschen ist die Täter-Opfer-Einordnung ein destruktives Mittel, um die Bevölkerung zu manipulieren und Konstruktives zu unterbinden.
In Mitleidenschaft dieser Form der Manipulation geraten übrigens auch die vermeintlichen Opfer, die auf den ersten Blick eine Rolle einnehmen, die für sie bequem ist und Vorteile bietet, während die Täter von vornherein verurteilt werden. Denn Opfer sind austauschbar. Je nach gesellschaftlicher Relevanz und politischer Priorisierung kann also aus den gehegten und gepflegten Opfern das Gegenteil gemacht werden: Täter.
Es ist also ein Irrglaube anzunehmen, dass man auf der sicheren Seite ist, solange man sich in der schützenswerten Rolle des Opfers befindet. Plötzlich wacht man morgens auf und ist Täter. Etwas dagegen zu unternehmen, wird man nicht können.
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.
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