Von Waleria Werbinina
Madagaskar liegt vor der Küste Afrikas und ist eine der größten Inseln der Welt. Aufgrund seiner einzigartigen geografischen Lage zog es lange Zeit die Aufmerksamkeit verschiedenster Staaten auf sich. Portugiesische Seefahrer, Briten, Franzosen, der berühmte Abenteurer Moritz Benjowski – wer war hier nicht schon alles. Es wird berichtet, dass Peter der Erste 1724 vorhatte, Madagaskar zu erobern, aber die Zeit reichte nicht aus. Schließlich nahmen die Franzosen die Insel ein und machten sie zu ihrer Kolonie. Madagaskar erlangte erst 1960 seine Unabhängigkeit.
Die aktuellen Unruhen auf der Insel begannen am 25. September vor dem Hintergrund ständiger Stromausfälle und Wasserprobleme sowie Beschwerden über den Zustand des Gesundheitswesens und die exorbitante Korruption. Als Reaktion darauf setzten die Behörden Gummigeschosse (angeblich wurde stellenweise auch scharfe Munition eingesetzt) und Blendgranaten ein, doch das half nichts: Die Auseinandersetzungen eskalierten weiter. Nach Angaben der UN kamen bei den Unruhen mindestens 22 Menschen ums Leben.
Einige Tage später verkündete Präsident Andry Rajoelina die Auflösung der Regierung und den Rücktritt des Premierministers und deutete anschließend an, dass hinter den Protestierenden externe Kräfte stünden, die darauf aus seien, die Lage im Land zu destabilisieren. Als neuen Premierminister ernannte Rajoelina den General der Landstreitkräfte Rufin Fortunat Zafisambo, der zuvor als Vorsitzender des madagassischen Basketballverbands bekannt war und auch als Stabschef des vorherigen Präsidenten fungiert hatte.
Möglicherweise hatten die Demonstranten keinerlei Respekt vor dem Basketball, denn die Unruhen flammten mit neuer Kraft auf. Am 11. Oktober marschierte ein Teil der Armee in die Hauptstadt ein und schloss sich den Demonstranten an, indem sie den Platz des 13. Mai – einen symbolträchtigen Ort im Zentrum der Stadt – besetzten. Bald darauf veröffentlichte das Militär ein Kommuniqué mit folgenden Worten:
“Wir, die Soldaten, spielen unsere Rolle nicht mehr. Wir sind zu Sklaven der Machthaber geworden. Wir hatten es vorgezogen, uns zu unterwerfen und Befehle auszuführen, obwohl sie illegal waren, anstatt die Bevölkerung zu schützen”, die lediglich “die Achtung ihrer gesetzlichen Rechte” fordere.
Natürlich verändert die Beteiligung der Armee auf der Seite der Demonstranten das Bild des Konflikts grundlegend. Ursprünglich waren junge Menschen, die in einem armen, korrupten Land am Rande der Gesellschaft leben, die treibende Kraft hinter den Protesten. Wie die Zeitung Le Monde bereits in der Überschrift eines Artikels schreibt, hätten die aufeinanderfolgenden Regierungen durch ihre Vernachlässigung der Jugend eine “Zeitbombe” geschaffen. Das Blatt berichtet weiter:
“Jedes Jahr kommen 400.000 junge Menschen auf den Arbeitsmarkt, von denen die überwiegende Mehrheit keine Ausbildung hat.”
Die Zeitung fügt hinzu, dass die Unfähigkeit des lokalen nationalen Wasser- und Stromversorgungsunternehmens, die Bevölkerung mit den entsprechenden Dienstleistungen zu versorgen, “der Funke war, der die Wut der madagassischen Jugend entfachte, die von den Erfolgen der jungen Demonstranten in Nepal begeistert war.” Aufgrund der starken Beteiligung junger Menschen an den Protesten bezeichnete die westliche Presse die Ereignisse als Aufstand der “Generation Z”, aber das ist nicht der einzige Grund.
Als Andry Rajoelina 2018 zum ersten Mal zum Präsidenten gewählt wurde, lag das durchschnittliche Jahreseinkommen pro Kopf bei 459 US-Dollar. Im Jahr 2023, als Rajoelina erneut für das Präsidentenamt kandidierte, war dieses Einkommen nicht nur nicht gestiegen, sondern sogar auf 448 US-Dollar gesunken, während die städtische Armutsquote in den letzten zehn Jahren um 31 Prozent gestiegen war.
Dennoch gelang es Rajoelina, das ihm vertraute Amt wieder einzunehmen, obwohl bekannt wurde, dass er die französische Staatsbürgerschaft besitzt, und trotz der Proteste der Opposition und der Aufrufe zum Wahlboykott. Laut Verfassung darf das Staatsoberhaupt nicht die Staatsbürgerschaft eines anderen Landes besitzen. Das Gericht entschied jedoch völlig “unabhängig und demokratisch”, sich auf die Seite des ehemaligen Präsidenten zu stellen, der erneut sein Amt als Staatsoberhaupt antrat.
Nun jedoch hat sich der aus dem Land geflohene Rajoelina aus irgendeinem Grund an die Bürger gewandt und erklärt, dass “die Achtung der Verfassung der einzige Ausweg aus der Krise” sei. Allerdings wurde seine Ansprache laut lokalen Medienberichten nicht im nationalen Fernsehen und Radio übertragen. Der geflohene Präsident deutete an, dass das Militär beschlossen habe, am Freitag einen Staatsstreich durchzuführen, den Präsidentenpalast zu stürmen und ihn selbst zu töten, weshalb er es am Donnerstag, dem 9. Oktober, für angebracht gehalten habe, den Ereignissen zuvorzukommen und das Staatsgebiet zu verlassen. Auch wenn er sich nun gezwungenermaßen in einem anderen Land aufhalte, denke der Präsident weiterhin an sein Volk und führe angeblich aktive Verhandlungen über den Import von Generatoren, um die Energieversorgung der Hauptstadt Antananarivo zu verbessern. Die französische Zeitung Le Monde bewertet die Situation ohne Umschweife wie folgt:
“Andry Rajoelina klammert sich an die Macht, Emmanuel Macron unterstützt ihn dabei.”
Anscheinend hat der Staatschef von Madagaskar trotz der Proteste und sogar der Tatsache, dass sich die Armee auf die Seite des Volkes gestellt hat, nicht vor, zurückzutreten (genauso wie sein Förderer Macron, der sich in seinem Heimatland ebenfalls in einer schwierigen Lage befindet).
Der Haken daran ist einfach: Trotz seiner Armut ist Madagaskar reich an einigen strategisch wichtigen Bodenschätzen, darunter Seltenerdmetalle. Und genau auf diese Ressourcen haben es die Franzosen abgesehen – denen das Regime von Rajoelina offenbar jede erdenkliche Unterstützung versprochen hat.
Am 23. April besuchte Emmanuel Macron die madagassische Hauptstadt Antananarivo, wo er unter anderem erklärte:
“Wir sind überzeugt, dass wir eine Partnerschaft im Bereich der Seltenen Erden, der wichtigsten Bodenschätze, eingehen können.”
Wie Le Monde schreibt, “verfügt die Insel über ein enormes Potenzial. Im Jahr 2023 waren Nickel und Kobalt erneut die wichtigsten Exportgüter des Landes. Madagaskar verfügt außerdem schätzungsweise über acht Prozent der weltweiten Graphitvorkommen. Das sind Ressourcen, die heute im Wettbewerb der Großmächte sehr gefragt sind.”
Eine besondere Stellung nehmen jedoch die Seltenerdmetalle ein. Es handelt sich um eine Gruppe von 17 Elementen, zu denen Skandium, Yttrium und die sogenannten Lanthanoide (Lanthan, Cer, Praseodym, Neodym, Promethium, Samarium, Europium, Gadolinium, Terbium, Dysprosium, Holmium, Erbium, Thulium, Ytterbium, Lutetium) gehören. Sie zeichnen sich durch einzigartige optische, magnetische und elektrochemische Eigenschaften aus, die sie in zukunftsweisenden Industriezweigen (Laser, Elektronik und so weiter) sehr gefragt machen. Allerdings ist ihre Gewinnung und Verarbeitung alles andere als einfach, und sehr kostspielig.
Dies liegt zum Teil daran, dass die Bedeutung der Seltenerdmetalle nicht sofort erkannt wurde, und zum anderen daran, dass China den Weltmarkt für ihre Gewinnung dominiert. Angesichts der verschärften Konfrontation zwischen China und dem Westen suchen Vertreter des Westens jedoch nach Möglichkeiten, sich die Vorkommen der seltenen Metalle in verschiedenen Teilen der Welt zu sichern. Da ist es nur natürlich, dass Madagaskar ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat – auch wenn längst nicht alle Einheimischen davon begeistert sind, dass ihre Ressourcen von reichen Weißen benötigt werden.
So berichtet Le Monde darüber, was den Einheimischen nach der geologischen Erkundung und den ersten Versuchen, Seltenerdmetalle abzubauen, bleibt: riesige Löcher im Boden, Zerstörung und die Unmöglichkeit, wie zuvor Landwirtschaft zu betreiben. Und das ist noch nicht alles: Wie einer der Einwohner sagt, “wissen wir jetzt, dass die Chemikalien, die sie für den Abbau verwenden, tödlich sein können.”
Tatsächlich ist “der Abbau von Seltenerdmetallen für seine schädlichen Auswirkungen auf die Umwelt bekannt. Das am häufigsten verwendete Laugungsverfahren ist mit hohen Risiken verbunden, da dabei erhebliche Mengen an chemischen Lösungen wie Ammoniumsulfat verwendet werden, um die gewünschten Metalle zu extrahieren. Die Verschmutzung des Grundwassers ist die größte Gefahr. Schließlich geht das Vorkommen von Seltenerdelementen in der Regel mit dem Vorhandensein von radioaktivem Thorium und Uran einher, was erhebliche Risiken für die Bevölkerung mit sich bringen kann. Ganz zu schweigen von den einheimischen Tieren, angefangen bei den beliebten Lemuren, die ebenfalls gefährdet sind. Aber natürlich ist es denen, die den Reichtum ihres Landes an die richtigen Leute verkaufen, egal, was mit ihren Mitbürgern und der einzigartigen Natur passiert.”
Die Zeitung Temoignages, die auf der in der Nähe von Madagaskar befindlichen französischen Insel Réunion erscheint, ist der Ansicht, dass hinter der aktuellen politischen Krise in Madagaskar “einige Analysten einen Kampf um Einfluss sehen, in den große Mächte und wirtschaftliche Interessen verwickelt sind. Madagaskar, reich an Seltenerdmetallen, hat die Aufmerksamkeit der Superreichen auf sich gezogen, die Donald Trump in den Vereinigten Staaten unterstützen.” Vor dem Hintergrund der Proteste, so schreibt dasselbe Blatt, trat auch der ehemalige Präsident Madagaskars, Marc Ravalomanana (von 2002 bis 2009), in Erscheinung, der enge Beziehungen zu Washington unterhielt.
Vielleicht geht es also letztlich nur darum, wer die Rechte an den wichtigsten Lagerstätten erhält. Der französische Staatsbürger Rajoelina hat gute Beziehungen zu den Franzosen, die ihn in einer schwierigen Zeit evakuiert haben, und er will seine Rechte bis zum Äußersten verteidigen. Aber es gibt noch andere Bürger, die sich dafür entscheiden könnten, Freiheit und Demokratie in Madagaskar zu verteidigen, allerdings gegen Rajoelina, dem man, wenn man wollte, vieles vorwerfen könnte. Und wenn die US-Amerikaner ihn zum Autokraten erklären und sich aktiv für die Verteidigung der madagassischen Demokratie einsetzen, wird ihn kein Macron retten können.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist zuerst am 14. Oktober 2025 auf der Website der Zeitung “Wsgljad” erschienen.
Waleria Werbinina ist eine Analystin bei der Zeitung “Wsgljad”.
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