Ausgehend von dem unvermindert brutalen Vorgehen der Netanjahu-Administration in Gaza zeigt die seit Jahrzehnten praktizierte Israel-Solidarität deutscher Politiker in der Bundesregierung erste Anzeichen von klar formulierter Kritik. Nachdem Bundeskanzler Friedrich Merz diese Woche erklärt hatte, er “verstehe offen gestanden nicht mehr, mit welchem Ziel” Israel agiere, fand nun auch Außenminister Johann Wadephul eindeutige Worte der Kritik. So forderte er bereits vor zwei Tagen auf X einen “Waffenstillstand – und klare Schritte hin zur Zwei-Staaten-Lösung”. In Berlin erklärte der CDU-Politiker gestern bei einer Veranstaltung, Berlin lasse sich vorerst nicht mehr seitens Israel “unter Druck setzen”.
Die fortdauernde Kriegsstrategie Israels in Gaza stößt auf internationale Kritik. Das Regierungsviertel in Berlin hielt sich im Verlauf des Jahres eher bedeckt und fiel dabei nicht durch eindeutige, unmissverständliche Kritik gegenüber der Netanjahu-Administration auf. Die Fortführung des Vernichtungsfeldzugs in Gaza sorgt jetzt allerdings für einen Stimmungswechsel im Kanzleramt. So kommentierte der neue Außenminister vor zwei Tagen auf X:
“Die Lage in Gaza ist nicht hinnehmbar. Israel hat das Recht, sich zu verteidigen – aber die humanitäre Hilfe in Gaza muss ganz dringend verbessert werden. Dafür braucht es jetzt einen Waffenstillstand – und klare Schritte hin zur Zwei-Staaten-Lösung.”
Am selben Tag stellte die ARD-Tagesschau fest, dass Bundeskanzler Merz “gegenüber der israelischen Regierung eine neue, scharfe Tonlage anschlägt.” Weiter heißt es:
“Er verstehe ‘offen gestanden nicht mehr, mit welchem Ziel’ das Land vorgehe. Der Bundeskanzler betonte, dass Angriffe wie die jüngsten nicht akzeptabel seien: ‘Die Zivilbevölkerung derart in Mitleidenschaft zu nehmen, wie das in den letzten Tagen immer mehr der Fall gewesen ist, lässt sich nicht mehr mit einem Kampf gegen den Terrorismus der Hamas begründen’.”
Merz wurde dabei auf dem WDR-Europaforum interviewt, einer separaten Veranstaltung auf der Berliner re:publica-Konferenz. Wadephul erklärte nun bei der gleichen Veranstaltung einen Tag später:
“Der Kampf der Bundesregierung gegen Antisemitismus und die vollständige Unterstützung des Existenzrechts und der Sicherheit des Staates Israel darf nicht instrumentalisiert werden für die Auseinandersetzung, für die Kampfführung, die derzeit im Gazastreifen betrieben wird.”
Anfang Mai äußerte sich der Außenminister bei seinem Antrittsbesuch in Jerusalem noch in gewohnter Solidaritätsbekundung. So hieß es zusammenfassend in einem Artikel der Jüdischen Allgemeine zum Besuch Wadephuhls:
“Der Außenminister bekräftigte dabei die Doktrin, die die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel 2008 mit den Worten definierte: ‘Die Existenz Israels und seine Sicherheit ist Teil der deutschen Staatsräson.’ Wadephul erklärte, ‘heute stelle ich mich voll in diese Tradition und gebe dasselbe Bekenntnis für mich und die Bundesrepublik ab.’ Er führte weiter aus: ‘Das heißt, dass Deutschland bei jeder Gefahr und der Infragestellung der Existenz Israels klar an der Seite Israels steht. Dass Deutschland jeden notwendigen Beitrag leistet, damit Israel sich und seinen Staatsbürgern Sicherheit gewähren und sich gegen den Terror der Hamas oder der Hisbollah oder der Huthi verteidigen kann.'”
Gut 14 Tage später hat sich nun der Tonfall in der geäußerten Kritik eindeutig verschärft. Das RND erkennt in den Äußerungen “ein klares Signal”. Der Außenminister erklärte wörtlich in Berlin:
“So lassen wir uns politisch auch als deutsche Bundesregierung bei aller Schwierigkeit, die dort besteht, nicht unter Druck setzen und in eine Position bringen, dass wir zu einer Zwangssolidarität gezwungen werden. Die wird es in der Form nicht geben können.”
Zuvor hatte er ausgeführt:
“Wir stehen zum Staat Israel. Deutschland hat eine besondere Verantwortung. Aber, wir stehen auch zu den Menschen im Gaza-Streifen. Es sind Menschen und vor dem lieben Gott sind übrigens alle gleich. Und alle haben das gleiche Recht ernährt zu werden, Medikamente zu bekommen.”
Israel habe selbstverständlich das Recht, gegen die Hamas vorzugehen, sagt Außenminister Johann Wadephul beim “WDR Europaforum”. Aber in Gaza sei die Verhältnismäßigkeit überschritten.https://t.co/zVYQFiP0nSpic.twitter.com/8r4QM2jyYR
— WDR aktuell (@WDRaktuell) May 27, 2025
Israel habe selbstverständlich das Recht, gegen die islamistische Hamas vorzugehen, jedoch “muss es auch eine Verhältnismäßigkeit geben.” Diese sei “überschritten in der Dauer, in der Härte, in der Konsequenz, wie die israelische Armee dort vorgeht.” Wadephul kündigte in dem Gespräch abschließend einen baldigen Besuch des israelischen Außenministers Gideon Saar in Berlin an.
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