Ein Aufsatz von Jewgeni Norin
Jede Nationalflagge destilliert die Geschichte und die Werte der Nation, die sie repräsentiert. Das Sternenbanner der USA ist ein großartiges Beispiel dafür. Die russische Flagge und ihr Wappen, die hundert Jahre älter sind, sind ebenso geschichtsträchtig. Beide haben sich in den vergangenen Jahrhunderten verändert, aber diese Symbole haben die Verbindung zwischen Moskau und dem Byzantinischen Reich bewahrt, die Idee der slawischen Bruderschaft aufrechterhalten und verweist auf die maritime Geschichte des Landes. Nachdem Russland am vergangenen 22. August seinen jährlichen Tag der Nationalflagge gefeiert hat, wirft RT etwas Licht auf die Ursprünge dieser nationalen Symbolik.
Russlands erste Symbole
Das traditionelle Symbol der mittelalterlichen Moskauer Fürsten, die alle russischen Fürstentümer zusammenführten und dadurch einen einheitlichen Staat schufen, war die Figur eines Reiters, wie sie auf Siegeln aus dem 13. Jahrhundert zu finden ist. Lange Zeit war die Figur lediglich nur ein Ritter zu Pferd, der einen Speer oder ein Schwert hielt und manchmal war es nicht einmal ein Krieger. So verwendete Wassili der Blinde ein Siegel, das einen Reiter mit einem Falken auf dem Arm darstellte.
Juri von Moskau verschmolz das Bildnis jedoch mit seinem Schutzpatron St. Georg und schließlich wurde es so gestaltet, dass im Bildnis eine der bekanntesten Taten des Heiligen dargestellt wurde – die Tötung eines Drachens mit einem Speer. Somit wurde der heilige Georg zum klassischen Symbol der Moskauer Heraldik und prangt noch heute auf dem Wappen der Stadt Moskau und auf Wappen des nationalen Äquivalents.
Das byzantinische Vermächtnis
Das 15. Jahrhundert wurde Zeuge mehrerer wichtiger Entwicklungen, die in Russland stattfanden. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten gelang es Iwan III., dem Großfürsten von Moskau, die meisten Länder der alten Rus unter seiner Herrschaft zu vereinen. Er wurde 1467 zum Wittwer, nachdem seine Frau Maria im Alter von nur 25 Jahren gestorben war. Seine zweite Gemahlin war Sophia Palaiologa, die Nichte des letzten Kaisers von Konstantinopel. Die Heirat mit einem Verwandten des letzten Kaisers der orthodoxen-christlichen Supermacht war für Ivan sowohl standesmäßig als auch aus religiösen Beweggründen wichtig.
Obwohl Byzanz bis dahin an türkische Eroberer gefallen war, verlor die Prinzessin aus dem Hause Palaiologos nichts von ihrem Stolz. Als starke und unabhängige Griechin gewöhnte sich Sophia schnell an das Leben am Hofe von Iwan III. und ließ sich nicht von ihrem energischen und ehrgeizigen Gatten in den Schatten stellen.
Eines der bemerkenswerten Merkmale von Byzanz war ein Wappen in Form eines Doppeladlers. Das war ein althergebrachtes Bildnis, das buchstäblich auf einige der ersten Staaten der Geschichte zurückgeht, wie zum Beispiel auf das Reich der Hethiter – wahrscheinlich geht der Doppeladler als heraldisches Symbol auf diese Zeit zurück – jedenfalls tauchten diese Bilder zuerst in Anatolien auf. Die Dynastie der Komnenen war die erste, die den Doppeladler als Siegel der königlichen Familie übernahm und später diente er als Emblem des Hauses Palaiologos, der letzten königlichen Dynastie des Byzantinischen Reiches.
Iwan III. strebte einen Status an, der mit dem der byzantinischen Kaiser vergleichbar war, daher war es für die Moskauer Fürsten und die späteren Zaren eine logische Wahl, dieses königliche Symbol anzunehmen.
Im Laufe der Zeit wandelte sich der Doppeladler allmählich in die Form, die wir heute kennen. Unter Iwan dem Schrecklichen wurde der Schild mit dem Reiter auf die Brust des Vogels verlegt und im 17. Jahrhundert verlieh man ihm ein Zepter und einen Reichsapfel, die Symbole der Macht der russischen Zaren. Damals unter Zar Alexis, dem Vater von Peter dem Großen, wurde die Funktion des Doppeladlers erstmals schriftlich festgehalten, als er offiziell als Staatssymbol eingeführt wurde. Diese Rolle hat der Doppeladler seitdem beibehalten, mit Ausnahme der Zeit zwischen der Revolution von 1917 und dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991.
Weiß, Blau und Rot
Zar Alexis trug auch zur Schaffung von Russlands erster Flagge bei. Anfangs waren Form, Farben und Design des russischen Banners nicht festgelegt, aber es wurden fast immer religiöse Bilder verwendet – sogar das russische Wort “Znamya” (Banner) kommt vom Wort “Znamenie”, was so viel wie Zeichen oder Omen bedeutet. Iwan der Schreckliche benutzte ein rotes Banner mit dem Bildnis von Jesus Christus als seine Militärflagge. Die von Fürst Poscharski angeführte Armee von Freiwilligen, die Moskau 1612 von den Polen befreite, verwendete ebenfalls eine rote Fahne, die jedoch das Bildnis des biblischen Heerführers Joshua, der Sohn von Nun, anstelle von Christus darstellte.
Mit der Geburt der russischen Marine entstand die Notwendigkeit einer einheitlichen Flagge, die von allen leicht zu interpretieren und zu erkennen ist. Russland war lange Zeit von den Meeren abgeschnitten, aber als Russlands erstes Marineschiff im europäischen Stil, die Orjol, auf dem Fluss Oka gebaut wurde, fragte sein Kommandant Zar Alexis, wie das russische Banner aussehen sollte und 1667 genehmigte der Monarch Weiß, Blau und Rot als Farben der russischen Nationalflagge.
Die Meinungen darüber, wie genau die Farben angeordnet wurden, gehen auseinander. Eine Theorie besagt, dass es ein blaues Kreuz war, das zwei weiße und zwei rote Quadrate teilte. Was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass dem Zaren die Flaggen von England, Dänemark und Schweden als Beispiele gezeigt wurden und diese zeigten Kreuze darauf.
Peters Trikolore
Peter I. führte dann eine einheitliche Marineflagge in Weiß, Blau und Rot ein. Dazu gehörte zunächst auch der heraldische Doppeladler, der jedoch später wieder verschwand. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass die weiß-blau-rote Flagge ursprünglich für die Marine gedacht war. Peter selbst zeichnete eine Skizze dieser neuen Flagge und machte die drei Farben zum Standard für die Schals der Offiziere. Die späteren Flaggen des Landes basierten auf einer Kombination dieser Farben und das weiß-blau-rote Banner wurde im Wesentlichen als russisch wahrgenommen.
Bei ihrer Einführung hatte die Flagge keine heraldische Bedeutung, obwohl einige Forscher sie mit dem Moskauer Wappen in Verbindung brachten. Weiß sollte für St. George stehen, während Blau seinen Umhang symbolisierte und Rot das Feld im Hintergrund, vor dem er reitet. Es gibt aber auch andere Interpretationen der Farbwahl. Eine Theorie besagt, dass die Trikolore vom offiziellen Titel der russischen Zaren stammt, “Der Souverän aller Rus: die Große, die Kleine und die Weiße”, wobei Weiß für die Weiße Rus, das heutige Weißrussland steht, Blau für die Kleine Rus, die heutigen Gebiete, die derzeit von der Ukraine kontrolliert werden, und rot – für die Große Rus oder Russland selbst.
Bis zur Revolution von 1917 gab es eine weitere populäre Erklärung, in der weiß als Symbol für Freiheit und Unabhängigkeit galt, blau als Symbol für die Mutter Gottes stand und rot als Ausdruck machtvoller Staatlichkeit. Es gibt auch weitere, prosaischere Versionen, aber interessanterweise gab es weder zu Zeiten Peters des Großen noch zu späteren Zeiten eine offizielle Erklärung der weißen, blauen und roten Symbolik.
Die slawische Bruderschaft
Weiß, Blau und Rot sind in vielen slawischen Ländern bereits seit dem 13. Jahrhundert typische Farben für die Landesflaggen, wie es zum Beispiel Serbien mit einem rot-blauen Banner und Mähren mit einer blauen Flagge mit einem rot-weißen Adler verwendete.
Der Prager Kongress der Slawen von 1848 definierte offiziell die panslawischen Farben auf der Grundlage der russischen Trikolore, und in der Folge wurde diese Farbkombination für eine Reihe von Staatsflaggen angewendet. Die modernen Flaggen der Slowakei und Sloweniens haben dieselben Farben, die in derselben Reihenfolge wie das russische Banner angeordnet sind und unterscheiden sich nur durch ihre jeweiligen Wappen, die über den Farbstreifen prangen. Die Farben werden auch von Serbien und Kroatien verwendet.
Bulgarien hingegen war eine Ausnahme. Während man sich an das Konzept der russischen Flagge anlehnte, ersetzte man den blauen Streifen durch einen grünen, wobei Grün eine der Farben auf dem Wappen der Battenbergs war, der ersten Fürsten Bulgariens.
Nachdem sich die slawischen Nationen unter Bannern mit ähnlicher Farbgebung vereint hatten, wechselte Russland selbst bemerkenswerterweise zu einem anderen Farbschema. Von 1858 bis 1896 verwendete das Russische Reich offiziell eine schwarz-gelb-weiße Flagge. Obwohl diese Farbkombination in der russischen Heraldik seit der Regierungszeit von Peter dem Großen bekannt war, wurde diese Flagge nur sporadisch verwendet, außer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als sie bei wichtigen Anlässen zum Standard auf Regierungs- und Verwaltungsgebäuden wurde.
Die schwarz-gelb-weiße Flagge gewann nicht so viel Popularität wie die weiß-blau-rote und wurde eher als Banner der Familie der Romanows denn als Nationalflagge wahrgenommen. Sie nimmt heute eine besondere Nische in der russischen Gesellschaft ein und wird von einer Reihe politisch rechter Gruppierungen genutzt, die damit ihre Bewunderung für die Kaiserzeit in der russischen Geschichte zum Ausdruck bringen wollen, daher der informelle Spitzname Imperka.
Schließlich machte Nikolaus II. 1896 das weiß-blau-rote Banner zur einzigen Nationalflagge Russlands und in einigen Fällen trug es auch das Wappen.
Von den Bolschewiki bis zur Gegenwart
Während der Sowjetzeit ging die russische Trikolore weitgehend vergessen und die Flaggen der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik waren ausnahmslos Versionen des roten Banners. Die klassische weiße, blaue und rote Flagge wurde entweder von Emigranten oder von Militäreinheiten verwendet, die während des Zweiten Weltkriegs an der Seite Nazi-Deutschlands kämpften.
Die Trikolore tauchte schließlich im Herbst 1991 in Russland wieder aus der Versenkung auf, wurde am 25. Dezember 1991 offiziell über dem Kreml gehisst, um damit die rote Flagge der Sowjetunion zu ersetzen und wird bis heute noch mit geringfügigen Änderungen verwendet.
Die weiß-blau-rote Flagge bleibt in erster Linie ein Symbol der langen und vielleicht berühmtesten Ära in der russischen Geschichte – der Zeit der imperialen Zaren. Zum ersten Mal in einem fast mittelalterlichen Land eingeführt – dem Russland des 17. Jahrhunderts – sah das Banner, wie das Russische Reich vom Feuer eines Weltkriegs verzehrt und in jenen unruhigen Tagen wiedergeboren wurde, als die UdSSR auseinanderfiel. Welches Schicksal auch immer Russland noch widerfahren mag, es wäre schwer vorstellbar, dies unter einer anderen Flagge erleben zu müssen.
Aus dem Englischen
Jewgeni Norin ist ein russischer Historiker mit Fokus auf Russlands Kriege und internationale Politik.
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