Von Abbas Juma
Am 7. Oktober wurde die Welt von einem erneuten Aufflammen des palästinensisch-israelischen Konflikts erschüttert, und dieses Mal wird es sehr ernst. Die Hamas hat nicht nur Raketen auf Israel abgefeuert, sondern ist auch auf israelisches Gebiet vorgedrungen. Die sogenannte “Operation al-Aqsa-Flut” war in Bezug auf ihre Kühnheit und Planung beispiellos. Schätzungen zufolge wurden über tausend Israelis getötet und mehr als 3.500 verwundet, Gebiete wurden erobert, Militärpersonal und Zivilisten als Geiseln genommen. Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu kündigte den Beginn eines umfassenden Krieges an und versprach, den Gazastreifen in Trümmern zu hinterlassen.
Die aktuellen Ereignisse waren das Ergebnis des größten Versagens des israelischen Staatssicherheitssystems in der jüngeren Geschichte. Sie haben den Glauben an die “Allgegenwart” des Mossad (Israels Auslandsgeheimdienst) und die Unbesiegbarkeit der Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) schwer erschüttert. Viele Stunden lang war die israelische Armee völlig hilflos, als bewaffnete palästinensische Gruppen das Land angriffen. Auch dem israelischen Geheimdienst gelang es nicht, die Katastrophe in irgendeiner Weise zu verhindern. Selbst der Tag, den die Hamas für den Beginn der Operation gewählt hatte, war symbolträchtig: der 50. Jahrestag des Jom-Kippur-Krieges von 1973.
Derzeit gibt es für die israelischen Behörden nur einen Ausweg: Sie müssen ihre Schande mit dem Blut des Feindes abwaschen. Dies könnte durch den Einsatz von Bodentruppen im Gazastreifen geschehen und der Hamas einen vernichtenden Schlag versetzen. Die Dinge werden jedoch durch die Tatsache erschwert, dass die Hamas nicht allein ist. Sie wird von Iran und der libanesischen militanten Organisation Hisbollah unterstützt. Früher versprach die Hisbollah, eine zweite Front zu eröffnen, und heute ist sie offen auf der Seite der Palästinenser in den bewaffneten Konflikt eingetreten. Bislang hat sie nur vom Grenzgebiet aus agiert. Die Seiten liefern sich einen Schlagabtausch, und die Hisbollah hat bereits Tote zu beklagen, für die die Führung der Bewegung Rache zu nehmen versprach.
Experten stellen fest, dass die Hisbollah über fortschrittliche Waffen und beträchtliche Kampferfahrung verfügt und die volle Unterstützung aus Teheran genießt.
Kein Grund, den Gegner zu unterschätzen
Der ehemalige US-Außenminister Mike Pompeo hat gewarnt, dass die Hisbollah in den letzten Jahren gefährlicher denn je geworden sei. Mit großen Siegen auf dem Schlachtfeld in Syrien, riesigen Waffenarsenalen im Libanon und mächtigen Verbündeten in der gesamten Region befindet sich die Hisbollah auf dem Höhepunkt ihrer militärischen und politischen Macht und ist so stark wie nie zuvor seit ihrer Gründung im Jahr 1985.
Es ist nicht öffentlich bekannt, über welche und wie viele Waffen die Hisbollah verfügt und wie groß die Kampfeinheiten der Organisation sind (die Hisbollah ist nicht nur eine paramilitärische Formation, sondern zugleich eine legitimierte politische Partei im Libanon). Einige Informationen sind jedoch verfügbar. Die öffentlich zugänglichen Daten und Beobachtungen sowie Informationen von Personen, die mit der Organisation in Verbindung stehen, lassen bestimmte Schlussfolgerungen zu.
Das Potenzial zur Überraschung
Theoretisch kann alles, was der iranische militärisch-industrielle Komplex zu bieten hat, auf die Hisbollah-Kämpfer übertragen werden. Dazu gehören Dutzende von Raketentypen und Drohnen. Außerdem unterstützt Teheran die Hisbollah jährlich mit Hunderten von Millionen US-Dollar. Dies bedeutet, dass die Hisbollah Israel nicht nur zu Lande, sondern auch zu Wasser und in der Luft ernsthaften Widerstand leisten könnte. Es gibt Hinweise darauf, dass die Hisbollah in den letzten Jahren fortschrittliche militärische Ausrüstung für die Marine erworben hat, darunter russische Jachont- und chinesische C-802-Marschflugkörper sowie unbemannte U-Boote.
Sie verfügt auch über ballistische Raketen. Experten zufolge haben iranische Raketen eine Reichweite von 500 bis 700 Kilometern, so dass sie jeden Punkt auf der Landkarte Israels treffen können.
Was die Zahl der Kämpfer angeht, so behauptete der Generalsekretär der Hisbollah vor zwei Jahren, die Organisation verfüge über etwa 100.000 ausgebildete Kämpfer. Hassan Nasrallah betonte, dass dies nur die Zahl der Berufssoldaten sei. Die Organisation kann auch auf die Unterstützung zahlreicher verbündeter Gruppen und Anhänger aus aller Welt zurückgreifen.
Fokus auf Raketen und so weiter
Das Raketenwaffenarsenal der Hisbollah ist seit dem Zweiten Libanonkrieg im Jahr 2006 stetig gewachsen. Medienberichten zufolge verfügt sie derzeit über rund 200.000 Raketen, darunter hochpräzise, intelligente Raketensysteme, aber auch Drohnen und Luftabwehrsysteme.
Das russische Lenkflugkörper-Panzerabwehrsystem Kornet wurde 2006 bei den Kämpfen im Südlibanon eingesetzt und war in der Lage, auch Israels Merkava-Panzer abzuschießen. Bei den Hochpräzisionsraketen, die Netanjahu 2017 und 2018 vor den Vereinten Nationen erwähnte, handelt es sich um iranische Gefechtsfeld-Kurzstreckenraketen vom Typ Zelzal (bis zu 160 km Reichweite), die Iran aktiv im Krieg mit dem Irak (1980-1988) nutzte, um Zelzal-2-Artillerieraketen (210 km Reichweite) und um die ballistische Boden-Boden-Rakete Fateh-110. Letztere wurde während der Operation Märtyrer Soleimani eingesetzt, die von der Islamischen Revolutionsgarde (IRGC) als Reaktion auf den Tod des Befehlshabers der al-Quds-Brigade General Qassem Soleimani, nachdem er in Bagdad ermordet wurde, gegen das US-Militär im Irak durchgeführt wurde.
Es ist auch bekannt, dass die Iraner ihren libanesischen Verbündeten unzählige Artilleriegeschütze und Granaten übergeben haben. Darüber hinaus verfügt die Hisbollah über viele stark gepanzerte Fahrzeuge. Einige davon haben wir während des Syrien-Feldzugs gesehen – zum Beispiel russische T-55-, T-72- und T-80-Panzer. Die Organisation verfügt auch über verschiedene Arten von Schützenpanzern und gepanzerten Mannschaftstransportern, über die Panzerhaubitze 2S1 Gwosdika und die Flugabwehr-Selbstfahrlafette Schilka aus russischer Produktion und vieles mehr.
Die Hisbollah ist in der Lage, täglich 3.000 Raketen auf israelisches Gebiet abzufeuern und kann Ziele in jeder Entfernung erreichen. Experten schätzen außerdem, dass die libanesische Partei im Jahr 2021 über etwa 2.000 unbemannte Luftfahrzeuge (UAVs) verfügte. In Anbetracht der äußerst erfolgreichen Entwicklung von Kampfdrohnen durch Iran gibt es kaum Zweifel, dass dies tatsächlich zutrifft.
Schlussfolgerungen
Die Situation Israels wird zusätzlich durch ein ausgedehntes Netz unterirdischer Tunnel erschwert, die von den Hisbollah-Kämpfern zur Fortbewegung, zum Transport von militärischer Ausrüstung und zur Lagerung von Waffen genutzt werden. Die IDF zerstören regelmäßig Tunnel, die sich vom Südlibanon bis nach Nordisrael erstrecken, aber selbst das israelische Militär räumt ein, dass die Zahl der geheimen unterirdischen Gänge überwältigend ist und es unmöglich sei, sie alle zu zerstören.
Gadi Eizenkot, der frühere (21.) Generalstabschef der IDF, heute im Ruhestand, hat oft darauf hingewiesen, dass diese Tunnel der Hisbollah unerwartete Angriffe ermöglichen. Die Organisation entwickelt sich jedoch noch weiter. Sie bildet Hacker aus und widmet der Informationstechnik immer mehr Aufmerksamkeit. Vor fünf Jahren hatte ich die Möglichkeit, den Medienbeauftragten der Hisbollah, Muhammad Afif, zu interviewen. Das erzählte er mir damals:
“Wir konfrontieren unsere Feinde auf allen möglichen Ebenen – unter anderem durch Geheimdienste, Spezialeinheiten, Ideologie und natürlich das Internet. Wir haben nicht die Absicht, unseren Gegnern in irgendetwas nachzustehen. Die Hisbollah beobachtet jeden Schritt Israels genau. Jede neue Technologie, die sie haben, haben auch wir. Die Hisbollah hat eine Einheit, die auf elektronische Kriegsführung spezialisiert ist und über Hacker verfügt.
Wir schenken der Werbung, der PR und den sozialen Medien große Aufmerksamkeit. Natürlich können wir nicht sagen, dass wir in diesem Bereich konkurrenzlos sind, aber es ist eine vielversprechende Richtung. Vor allem bei jungen Leuten, die online arbeiten wollen und wissen, wie man das macht. Wir stellen ihnen alles zur Verfügung, was sie für ihre Ausbildung und ihre Arbeit brauchen. Nicht nur Libanesen sind daran beteiligt – viele junge Menschen aus dem Ausland unterstützen die Hisbollah.”
In Anbetracht all dessen können wir mehrere wichtige Schlussfolgerungen ziehen. Wenn Israel einen umfassenden Krieg mit der Hisbollah gewinnt, wird dies sicherlich ein Pyrrhussieg sein. Zwar wird auch die Hisbollah durch ein direktes Aufeinandertreffen mit Israel einen irreparablen Schaden erleiden. Es gibt jedoch einen grundlegenden Unterschied in den Prinzipien beider Seiten. Die Hisbollah ist eine Organisation, die gegründet wurde (und weiter existiert), um zu kämpfen und (notfalls) zu sterben, wenn sie ihre Mission erfüllt, dem Feind tödlich Verletzungen zuzufügen. Die Frage ist, ob Israelis bereit wären, das ebenfalls zu tun.
Übersetzt aus dem Englischen
Abbas Juma ist ein international tätiger Journalist, politischer Kommentator, Nahost- und Afrikaspezialist.
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