Von Anna Dolgarewa
Schreibt man über Gorlowka, drängt sich aus dem kollektiven Unbewusstsein unweigerlich das Epitheton “leidgeprüft” auf. Es ist unmöglich, diese Stadt zu erwähnen und sie nicht zu bezeichnen. Jede Erwähnung Gorlowkas in den sozialen Medien oder in den Nachrichten wird davon begleitet. Die Stadtbewohner selbst sagen, dass sie dies zunehmend ärgert.
Zuvor war Donezk “leidgeprüft”. Doch nach der Befreiung von Awdejewka rückte die Frontlinie weiter weg, und die Stadt wurde kaum noch angegriffen – Gorlowka dafür umso heftiger.
Also, Gorlowka. Mein Fahrer, mit dem wir ganz Mariupol Tag für Tag direkt auf den Spuren der vorrückenden Armee durchstreiften und manchmal unter Gewehrfeuer gerieten, wagte es nicht, mich dorthin zu bringen. Ohne ein Auto, das mit einer Eloka-Anlage ausgestattet ist, sei dort nichts zu tun, sagte er. Eine Eloka-Anlage schützt vor Drohnen, aber nicht vor Artillerie. Gorlowka wird mit beidem angegriffen.
Ich fahre mit Freunden. Wir brechen morgens auf und lesen schon unterwegs von zwei Zivilisten, die in Gorlowka verwundet wurden.
Als wir in die Stadt hineinfahren, ruft mich einer der Freunde an. Ich nehme ab, während wir durch die Stadt auf der Suche nach dem Treffpunkt mit einem der Kämpfer kreisen. Man fragt mich:
“Gorlowka? Ist es dort gefährlich?”
In diesem Moment ertönt eine Explosion.
“Naja, das ist auch schon die Antwort.”
Gorlowka erinnert an die Stadt Schebekino im Gebiet Belgorod im vergangenen Sommer – wenig Autos, wenig Menschen auf den Straßen, sehr still, aber sauber. Nur sind die Straßen in Schebekino trotz aller Angriffe hervorragend und hier scheint es immer noch die gleichen Schlaglöcher zu geben, wie vor zehn Jahren, als ich erstmals hierherkam. Sie stammen nicht vom Beschuss, gerade die Löcher, die durch Beschuss entstanden, werden halbwegs schnell beseitigt. Ich erinnere mich, als ich im Jahr 2015 erstmals nach Lugansk fuhr. Nach der Grenze begann der Bus, über die Unebenheiten zu springen. Ich fragte, ob diese Schlaglöcher von der Artillerie hinterlassen wurden, und bekam die Antwort, dass sie schon lange vor dem Krieg da waren.
Dafür erschien etwas, was es zuvor nicht gegeben hatte – Ausgabestellen für Pakete von virtuellen Marktplätzen. Nein, weder “Ozon” noch “Wildberries” liefern offiziell hierhin. Es sind lokale Unternehmer, die Bestellungen annehmen und sie vom “Festland” hierherbringen. Restaurants sind geöffnet. Es gibt zahlungsfähige Militärangehörige, also wird die Wirtschaft ihnen dabei helfen, ihr Geld auszugeben.
Ein ehemaliger Rekrut aus Gorlowka, der wegen einer Verwundung entlassen wurde, sagt, dass er in den Schützengräben weniger Angst hatte als in seiner Heimatstadt. In seinen Hof flog einmal eine Artilleriegranate, sein Auto wurde von einer Drohne getroffen. Das ist keine Ausnahmesituation. Alle, die ich in Gorlowka kenne, gerieten auf eine oder andere Weise irgendwann unter Beschuss. Das ist ein Teil des Stadtalltags. Wer über die Straße geht, geht ein Risiko ein. Wer Auto fährt, riskiert noch mehr, denn für ein Auto wird den ukrainischen Truppen eine Drohne nicht zu schade sein.
Es gibt viele Flaggen – sowjetische, russische und Flaggen einzelner Einheiten. Über der Kommunalwirtschaftsverwaltung weht eine sowjetische Flagge. Die Leiterin der Verwaltung fährt einen WAS-2105. Es ist rührend.
Und all diese Alltagserscheinungen der Friedenszeit, Restaurants, Geschäfte, Kaffeemaschinen, an denen man für 150 Rubel einen Becher Cappuccino mit einem Deckel kaufen und mit Karte zahlen kann – man bedenke, vor acht Jahren war hier nur Bargeld in Umlauf. All das ändert selbstverständlich nichts daran, dass hier der Tod einem auf Schritt und Tritt folgt.
Der Tod ist unabwendbar und ist nicht wählerisch, wen er holen oder wen er nur mit seinem Flügel berühren wird. Du wachst auf, gehst auf die Straße, und dort ist der Tod. Du gehst zur Arbeit, und der Tod lauert in der Nähe. Du gehst von der Arbeit, trittst in eine Kneipe ein, und der Tod späht durch das Fenster. Er sucht seine Beute für heute.
Über all dem ist es natürlich sehr leicht, den Verstand zu verlieren. Im Jahr 2015 sah ich bei einem Lugansker Taxifahrer Antidepressiva im Handschuhfach – er behandelte damit sein posttraumatisches Syndrom. Ein Wunder eigentlich, denn bei uns zieht man es vor, so etwas nicht zu behandeln, es werde ja schon von selbst vorbeigehen. Dabei benötigt hier wirklich jeder Bewohner Hilfe. Gorlowka ist eine recht große Stadt, trotz des verwirrenden Namens, der eher zu einem Dorf passt. Die Hilfe wird in Zukunft notwendig sein, denn heute ist der traumatisierende Faktor unaufhebbar, der Tod geht immer noch in der Stadt um.
Auf der Straße geht der Tod, er trägt Pfannkuchen auf einem Tellerchen. Wer einen herausholt, den erwischt es.
Man kann ruhig den ganzen Tag über durch die Stadt fahren und keinen einzigen Splitter abbekommen. So fuhren wir, und nichts ist uns passiert, obwohl wir keine Eloka-Anlage hatten. Oder man kann hinausgehen, um Brot zu kaufen, und nicht zurückkommen.
Dabei ist Gorlowka keine umkämpfte Stadt, die gestürmt wird, wie etwa Pokrowsk oder Tschassow Jar. Es ist eine friedliche russische Stadt mit Cafés, Abholstellen für Pakete und Kartenzahlungen.
Doch morgen wird dort irgendjemand den Tod finden, obwohl er leben wollte.
Gewöhnen darf man sich daran nicht.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei der Zeitung Wsgljad am 26. Mai.
Anna Dolgarewa, geboren 1988 in Charkow, ist Journalistin, Dichterin und Kriegsberichterstatterin. Seit 2015 lebt und arbeitet sie in Lugansk, Donezk und Moskau.
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