Von Susan Bonath
Während ein wachsender Teil der Mittelschicht um seinen Lebensstil bangt, kämpfen immer mehr obdachlose Jugendliche in Deutschland ums blanke Überleben. Wie viele junge Menschen tatsächlich betroffen sind, weiß keiner. Denn niemand zählt sie, und staatliche Hilfsangebote scheitern nicht selten an der Realität. Der Jahresabschluss 2022 der privaten Stiftung “Off Road Kids”, die sich um die vergessenen Jugendlichen kümmert, lässt aber einen Schluss zu: Es werden mehr.
Immer mehr Notrufe
Demnach suchten im vergangenen Jahr mehr als 5.200 Jugendliche ohne ein Dach über dem Kopf Hilfe bei den Streetworkern der Stiftung. “Das waren viermal mehr als vor fünf Jahren”, sagte der Vorstandssprecher von “Off Road Kids”, Markus Seidel. In den ersten Monaten dieses Jahres sei der Zulauf sogar weiter angestiegen. Allein im März habe die Stiftung über sechshundert neue Anfragen erhalten, so viele wie noch nie.
Seit einigen Jahren setzen die Streetworker auch auf die Digitalisierung. Jugendliche in Not können über ihr Smartphone den ersten Kontakt mit den Sozialarbeitern aufnehmen und ein Beratungsgespräch vereinbaren, wie Seidel erklärte. Fast 87 Prozent aller Hilferufe seien im Jahr 2022 auf diesem Weg über die virtuelle Streetwork-Station “sofahopper.help” eingegangen.
“Müssen Verelendung verhindern”
“Unsere Strategie, frühe digitale Hilfe mit persönlicher Beratung zu koppeln, ist sehr wirksam”, resümierte der Vorstandssprecher. Man ziele vorrangig darauf ab, “die gefährliche Anziehungskraft von großstädtischen Szenetreffpunkten einzudämmen und Abstürze ins Straßenleben zu vermeiden”. Aber der hohe Anstieg der Notrufe besorgt ihn.
“Die Straße ist ein hochgradig gefährliches Umfeld – ganz besonders für junge Menschen in Notsituationen. Ihnen drohen Einsamkeit, Verwahrlosung, Infektionskrankheiten, Drogen- und Alkoholsucht, Missbrauch, Prostitution und Kriminalität”, warnte die Stiftung in ihrem Jahresbericht für das letzte Jahr. Jeder Tag auf der Straße erhöhe die Gefahr für Jugendliche und junge Erwachsene, den Ausstieg nicht mehr zu schaffen und zu verelenden. Um das zu verhindern, sei professionelle Hilfe nötig.
Doch daran mangelt es von staatlicher Seite massiv. Jugendämter haben starre Rahmen mit viel Bürokratie und stellen Bedingungen, die viele Betroffene nicht erfüllen können. So müssen in Heimen untergebrachte Jugendliche sogenannte Hilfepläne mit ihren Betreuern erarbeiten. Halten sie sich nicht daran, kann die Einrichtung sie abschieben oder hinauswerfen. Nicht selten beenden Jugendämter jede Hilfe abrupt am 18. Geburtstag ihrer Klienten. Plötzlich auf sich allein gestellt, scheitern viele an den Anforderungen des Lebens.
Politik sieht weg
Laut einer Schätzung des Deutschen Jugendinstituts, einer sozialwissenschaftlichen Forschungseinrichtung, lebten im Jahr 2017 etwa 37.000 junge Menschen unter 27 Jahren in Deutschland auf der Straße, davon mehr als 6.500 Minderjährige und weitere 12.000 Jungerwachsene im Alter von 18 bis 20 Jahren. Der Verein Straßenkinder e.V. vermutet darüber hinaus eine hohe Dunkelziffer. Vor Kurzem hat er mit dem Bau einer Unterkunft für Straßenkinder begonnen – finanziert durch einen privaten Großspender.
Die Stiftung “Off Road Kids” hat nach eigenen Angaben seit 1993 fast 10.300 obdachlose junge Menschen untergebracht – und jährlich werden es mehr. Ihre Mitarbeiter sind aktiv in Brennpunkten in Hamburg, Berlin, Frankfurt am Main, Dortmund und Köln. Die Stiftung finanziert ihre Arbeit hauptsächlich durch Spenden von Privatpersonen und Firmen, hinzu kommt ein Zuschuss vom Bundesfamilienministerium.
Im Jahr 2014 veranstaltete der Verein Karuna mit anderen Akteuren eine Konferenz mit Straßenkindern in Berlin und besuchte das Familienministerium. Die Vorschläge der Betroffenen für gezieltere Hilfe setzte die Politik aber bis heute nicht um. In seinem Wohnungslosenbericht 2022 listete das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) rund 38.000 obdachlose junge Menschen zwischen 14 und 27 Jahren auf. Die Politik weiß also von dem Problem. Trotzdem übernimmt sie wenig Verantwortung und überlasst das Angebot für Hilfe dem freiwilligen privaten Engagement.
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