Nach einer monatelangen faktischen Blockade durch Israel haben erstmals wieder größere Hilfslieferungen den Gazastreifen erreicht. Am Sonntag passierten etwa 100 Lastwagen mit Lebensmitteln den von Israel kontrollierten Grenzübergang Kerem Schalom. Dies berichteten Quellen vor Ort gegenüber der dpa.
Zuvor hatten das ägyptische Fernsehen und die Nachrichtenagentur berichtet, dass erste Lkw am Grenzübergang Rafah aus Ägypten in den Gazastreifen gefahren seien. Lastkraftwagen können von dort jedoch nicht direkt in das Palästinensergebiet fahren, sondern müssen einen mehrere Kilometer weiten Umweg über Kerem Schalom machen, wo sie kontrolliert werden.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO warnte zuletzt vor einer tödlichen Hungerkrise unter den rund zwei Millionen Bewohnern des Gazastreifens. Fotos aus dem abgeriegelten Gebiet, in dem Israel angeblich Krieg gegen die islamistische Hamas führt, zeigten Kleinkinder in den Krankenhäusern, die nur noch Haut und Knochen waren. Ärzte und weitere Augenzeuge berichteten von unglaublichen Zuständen in der Konfliktzone.
Nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums starben bereits mehr als 100 Menschen an Unterernährung, 80 Prozent von ihnen Kinder. Israel nahm nach Angaben eines Militärsprechers auch die Hilfslieferungen aus der Luft wieder auf. Sie umfassten den Angaben zufolge sieben Paletten mit Mehl, Zucker und Lebensmittelkonserven.
Palästinensische Quellen bestätigten der Nachrichtenagentur Reuters, im Norden des Gazastreifens sei mit dem Abwurf von Hilfsgütern begonnen worden. Die Armee kündigte an, ab heute werde sie “jeden Tag bis auf Weiteres” von 10:00 bis 20:00 Uhr Ortszeit eine “taktische Pause der militärischen Aktivitäten für humanitäre Zwecke” einlegen.
Die Pause gelte in den Gebieten, in denen die Armee nicht operiere: Al-Mawasi im Südwesten des Küstenstreifens, in Deir al-Balah im Zentrum und in der Stadt Gaza im Norden. Dies sei mit der UNO und weiteren internationalen Organisationen abgestimmt worden.
Von 06:00 bis 23:00 Uhr Ortszeit sollen zudem Korridore eingerichtet werden, um die sichere Durchfahrt von Hilfskonvois zu ermöglichen. Die Zeltstadt in Al-Mawasi hatte Israel schon zuvor als sicheren Rückzugsraum für Zivilisten definiert. Allerdings gab es auch dort israelische Angriffe mit vielen Toten.
In Deir al-Balah befindet sich das zentrale Warenlager der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für den Gazastreifen. Es wurde laut WHO kürzlich beschädigt, als das Militär dort erstmals mit Bodentruppen einrückte. Die IDF teilten zudem mit, eine Anlage zur Aufbereitung von Trinkwasser sei wieder an das israelische Stromnetz angeschlossen worden. Dadurch sei eine tägliche Wasserproduktion von 20.000 Kubikmetern möglich.
Das Töten geht weiter
Trotz der humanitären Feuerpause in Teilen des Gazastreifens greift Israel weiterhin an. In der Nähe von Deir al-Balah sollen auch Zelte mit Vertriebenen getroffen worden sein, wie Mitarbeiter der Rettungskräfte berichteten. Nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde kamen seit dem Morgengrauen mindestens 53 Palästinenser ums Leben.
Die unabhängig nicht überprüfbare Zahl unterscheidet nicht zwischen Zivilisten und Kämpfern. Allein 32 Menschen sollen demnach beim Warten auf humanitäre Hilfe getötet worden sein. Vor allem im Umfeld der Verteilzentren der von Israel und den USA unterstützten Gaza Humanitarian Foundation (GHF) kommt es immer wieder zu tödlichen Zwischenfällen.
Seit Verhängung der faktischen Blockade ließ Israel den Großteil der wenigen Güter, die in den Gazastreifen kamen, durch die GHF verteilen. Dort kam es bei der – von Experten als unsachgemäß kritisierten – Ausgabe der Lebensmittelpakete schon häufig zu chaotischen Szenen.
Israelische Soldaten, die das Umfeld sichern sollten, feuerten immer wieder Schüsse ab. Nach UN-Angaben sollen auf diese Weise bislang rund 900 Menschen ums Leben gekommen sein. Wie der britische Chirurg Nick Maynard berichtete, deuteten die Schusswunden bei Verletzten auf eine Schießübung seitens des israelischen Militärs hin.
Hilfe über Luftweg ineffektiv
An den jüngsten Hilfslieferungen gibt es Kritik. Die Lieferung über den Luftweg gilt Helfern zufolge als die teuerste und ineffektivste Form humanitärer Hilfslieferungen – auch, weil es dabei meist um relativ geringe Mengen geht. Im Gazastreifen leben rund zwei Millionen Palästinenser, die größtenteils dringend auf Hilfe angewiesen sind.
Mohammed Suheib, einer von vielen hunderttausend Vertriebenen im Gazastreifen, sieht die Abwürfe von Hilfsgütern aus der Luft nicht als Lösung für die Versorgungsprobleme im Kriegsgebiet. Laut einem Tagesschau-Bericht sagte er:
“Wenn Hilfsgüter aus der Luft abgeworfen werden, verursachen sie häufig Verletzungen und Schäden und es kommt zu Massakern auf den Straßen. Wir sollten die Hilfen auf legitimem Weg erhalten, von einer Hilfsorganisation, einer NGO, der UNRWA. Wenn ein, zwei oder zehn Paletten abgeworfen werden, können all diese Menschen sie nicht mitnehmen. Nur ein oder zwei Prozent der Menschen erhalten die Hilfe.”
Israel war in den vergangenen Tagen wegen der verheerenden humanitären Lage im Gazastreifen zunehmend unter Druck geraten. Mehr als einhundert Hilfsorganisationen hatten vor einem “massenhaften Verhungern” in dem Palästinensergebiet gewarnt, darunter Ärzte ohne Grenzen, Save the Children und Oxfam. Auch die Weltgesundheitsorganisation warnte vor einer tödlichen Hungerkrise im Gazastreifen.
Israel dementiert
Die Organisationen forderten sofortige Verhandlungen über eine Waffenruhe, die Öffnung aller Grenzübergänge und den ungehinderten Fluss von Hilfsgütern durch von der UN kontrollierte Strukturen. Die israelische Armee beharrt derweil auf dem Standpunkt, es gebe keine Hungersnot in Gaza.
“Die israelischen Streitkräfte betonen, dass es in Gaza keine Hungersnot gibt; dies ist eine falsche Kampagne der Hamas”, so die Armee in einem Post auf X. Belege für diese Aussage lieferte das Militär nicht.
Die Hamas wiederum wirft der israelischen Armee vor, in der Nähe von Verteilzentren regelmäßig auf Hilfesuchende zu schießen. Israel bestreitet diesen Vorwurf.
Die israelische Regierung wirft der Hamas im Gegenzug vor, die Verteilung von Hilfsgütern im Gazastreifen zu behindern, die humanitären Lieferungen selbst zu plündern und Nahrungsmittel zu überhöhten Preisen zu verkaufen. Israels Premier Benjamin Netanjahu bekräftigte diese Vorwürfe am Sonntag und nannte die Anschuldigungen gegen Israel “unverschämt”.
“Israel wird so dargestellt, als würden wir eine Aushungerungskampagne in Gaza durchführen. Was für eine unverschämte Lüge! Es gibt keine Aushungerungspolitik in Gaza und auch keine Hungersnot”, sagte er bei einer Veranstaltung der konservativen US-Pastorin Paula White in Jerusalem.
Während Natanjahu weiterhin auf die Unterstützung weiter Teile der US-Protestanten zählt, wenden sich immer mehr judaistische Geistliche von ihm und seiner Politik ab. So haben mehr als 1.000 Rabbiner aus aller Welt Israel beschuldigt, den Hunger in Gaza als Waffe einzusetzen, und die Regierung in Tel Aviv aufgefordert, Hilfslieferungen in das Gebiet zuzulassen.
Rabbiner empört über Netanjahu
Rabbiner und jüdische Gelehrte aus den USA, Großbritannien, der EU und Israel haben einen offenen Brief unterzeichnet, in dem sie erklärten, dass das jüdische Volk “vor einer schweren moralischen Krise steht.” Die Liste der Unterzeichner wurde am 24. Juli als offenes Google-Dokument angesetzt, wobei die Zahl der Unterzeichner trotz des Durchlassens von Lebensmitteln in den Gazastreifen am Sonntag weiterhin wächst.
Seit den ersten Berichten über die Wiederaufnahme der Hilfslieferungen haben mehr als 150 Menschen die Petition unterzeichnet.
“Die strenge Beschränkung der humanitären Hilfe in Gaza und die Politik, der bedürftigen Zivilbevölkerung Lebensmittel, Wasser und medizinische Versorgung vorzuenthalten, widersprechen den grundlegenden Werten des Judentums, wie wir sie verstehen”, heißt es in dem Brief.
Die Rabbiner forderten Israel auf, “umfassende humanitäre Hilfe” zuzulassen und gleichzeitig eine Umleitung an die Hamas zu verhindern. Sie verlangten von Israel zudem, “dringend alle möglichen Wege zu beschreiten, um alle Geiseln nach Hause zu bringen und die Kämpfe zu beenden.”
UNO bleibt unbeeinduckt
Laut Philippe Lazzarini, dem Leiter der UN-Flüchtlingsorganisation für Palästinenser, leiden rund 90.000 Frauen und Kinder an Unterernährung in einer Situation, die Hilfsorganisationen als eine durch die israelische Blockade verursachte, von Menschen gemachte Hungersnot bezeichnen.
Lazzarini nannte das Durchlassen von mehr als einhundert Lastwagen in das Krisengebiet eine “Nebelkerze” und warf Israel vor, mit dieser Maßnahme lediglich “sein Image beschönigen” zu wollen. Er bestand darauf, dass Israel stattdessen den Zugang für 6.000 Hilfs-Lkws freigeben sollte, die auf die Einfahrt durch die Grenze zu Gaza warten.
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