Von Wladislaw Sankin
Die Ansprache an die Teilnehmer der Kranzniederlegung in Kienitz hat der russische Botschafter Sergei Netschajew sehr kurz gehalten. Zunächst bedankte er sich bei den Organisatoren für die Einladung und die langjährige Tradition der Ehrung der sowjetischen Soldaten und der Befreiung. Dann fügte er hinzu: “Und wir blicken doch mit Zuversicht in die Zukunft der deutsch-russischen Beziehungen. Vielen Dank.” Kienitz war der erste Ort in der heutigen Bundesrepublik, der von den Nazis befreit wurde, am 31. Januar vor genau 80 Jahren.
Dennoch gibt es derzeit viele in der Bundesrepublik, die die Erinnerung daran lieber vergessen machen oder umdrehen würden. Ihnen galt das “Doch” des Botschafters, denjenigen, die deutsch-russische Projekte seit Anfang der 2010er-Jahre systematisch torpedierten und gute Beziehungen zu Russland im Endeffekt mit Sanktionen und antirussischer Propaganda zerstörten. Am 80. Jahrestag des sowjetischen Vorstoßes in dieses brandenburgische Örtchen waren sie natürlich nicht zugegen. So konnte man das Kriegsgedenken und deutsch-russische Miteinander fast wie zu “guten alten Zeiten” in der DDR und späteren 1990er- und 2000er-Jahre ungehindert feiern.
Von den Amtsträgern der Gastgeberseite waren vor allem der Bürgermeister der Gemeinde Letschin Michael Böttcher und der Landrat von Märkisch-Oderland Gernot Schmidt (SPD) anwesend. Von russischer Seite kamen zahlreiche Diplomaten, darunter Botschaftsräte und Militärattachés. Den Rest der Versammelten machten Einwohner Letschins (dessen Ortsteil Kienitz ist), NVA-Offiziere, Kriegsgräber- und sonstige Aktivisten sowie eine russischstämmige Schülergruppe aus.
Für die Russen war das Treffen in Kienitz in diesem Jubiläumsjahr ein besonders wichtiger Termin. Angesichts der jüngsten Behauptung des Bundeskanzlers, dass nur die US-Amerikaner Deutschland vom Hitlerfaschismus befreit hätten, bekam die Veranstaltung zusätzliche Bedeutung. Mehr denn je ist es heute wichtig, die historische Wahrheit vor dem Geschichtsrevisionismus zu bewahren.
Denn zu offensichtlich ist der Zusammenhang zwischen der Auslöschung des Gedächtnisses über die Wahrheit des Krieges und dem Aufkommen neuer Kriege. Die massenhaften Denkmalstürze in der Ukraine, die Ende 2013 ihren Anfang auf dem Kiewer Maidan nahm, ist das beste Beispiel dafür. Als nächste Kriegsschauplätze nennen die Bundeswehrgeneräle Polen und das Baltikum – diesmal mit deutscher Beteiligung. Auch dort wurden die Denkmäler für die sowjetischen Befreier entfernt und vernichtet. Die Balten raten nun den Deutschen, in ihrem Land dasselbe zu tun.
Wichtig sind die “runden Daten” in diesem Jahr auch deshalb, weil man bei der Gedenkfeier die letzten verbliebenen Augenzeugen des Krieges noch antreffen kann. Wie etwa Rudi Schulz, der im Jahre 1945 acht Jahre alt war. Er wurde zum Helden einer RBB-Reportage, in der die Geschichte seiner Rettung kurz geschildert wurde. Er und seine Mutter hätten sich vor den Rotarmisten in einem Keller versteckt. Sie wurden entdeckt, aber nicht getötet. Tödlich für die Einwohner des Ortes war dagegen der Angriff der NS-Luftwaffe, der an jenen Tag 26 Zivilisten am Anlegeplatz tötete.
Nach der Gedenkveranstaltung kam Schulz auf den russischen Botschafter zu, um sich bei ihm für die Befreiung durch die Rote Armee und für seinen Besuch zu bedanken. Die beiden kannten sich bereits – das war sichtbar an der Herzlichkeit der Begegnung, die von den Kameras der anwesenden Journalisten festgehalten wurde. Der Botschafter wünschte dem deutschen Kriegskind gute Gesundheit und ein Wiedersehen bei den nächsten Feierlichkeiten.
Ähnlich freundlich verliefen sich die Begegnungen des Botschafters mit Bürgermeister Böttcher und Landrat Schmidt. Die beiden haben es vermocht, in ihren Reden die Würdigung der Befreier und ihren Friedenswillen ohne in der Bundespolitik üblichen ätzenden antirussischen Floskeln auszudrücken. Aus ihrer Sicht war die Gedenkfeier ein diplomatischer Akt – “Diplomatie ist Grundstein des Friedens”, betonte Schmidt. Auch die SPD-Abgeordnete Simona Koß, die ihre Botschaft über ihren Mitarbeiter ausrichten ließ, hat sich in ihrem Redebeitrag zumindest auf direkte Schuldzuweisungen an Russland verzichtet.
“Wir stehen auf Gräbern der Völker des Ostens”. Anprache des Landrats in Brandenburg Gernot Schmidt bei der Gedenkfeier in Kieninz (der erste deutsche Ort, der die Rote Armee 31.01.45 betrat) und seine Geste an den russischen Botschafter Sergei Netschajew. Heutzutage einmalig! pic.twitter.com/vlWhxfYbsM
— Wlad Sankin (@wladsan) February 1, 2025
Schließlich begrüßte eine Gruppe Ortsansässiger den Botschafter und andere Anwesende nach russischem Brauch mit Brot und Salz. Eine Gruppe aus Männern und Frauen mit roten Baretten – Mitglieder der NVA-Vereine – breiteten ein Plakat für ein gemeinsames Foto aus. Außer Sowjetsymbolen war darauf auch ein T-34 abgebildet, der Panzer des Sieges. In der unteren Hälfte prangte der Schriftzug “Auf Berlin”. Die versammelten Russen und Deutsche wollten noch eine Weile das Miteinander genießen und blieben trotz der Kälte in geselligen Runden stehen.
Etwas abseits stand eine Mahnwache aus vier Personen. Auf einem der Plakate stand: “Woran erkennt man die echten (Neo)Nazis und (Neo)Faschisten? An ihrem Russen-u. Kommunistenhass, sowie an ihrer Kriegstüchtigkeit.” (Wiedergegeben wie im Original.) Die Aktivisten kommen aus dem 60 Kilometer entfernten Eberswalde. Dort stehen sie jeden Samstag um 10 Uhr auf der Friedensbrücke, um gegen die Kriegspolitik der NATO zu demonstrieren. Sie tun es seit drei Jahren.
Den russischen Einmarsch in der Ukraine halten sie für erzwungen und wünschen Russland den Sieg. “Es wird auf der Welt weniger Kriege gegen, wenn der Westen seine Dominanz verliert”, erklärt mir einer der Protestler. Es sei hart, jedes Wochenende bei jedem Wetter auf einer Brücke zu stehen, aber dies sei immer noch besser, als in den Schützengräben auszuharren. “Dort gibt es dann gar keine Pausen.”
Die Kranzniederlegung in Kienitz war die erste große Gedenkveranstaltung, auf der russische und deutsche hohe Amtsträger zusammengekommen sind. Ob dies nun weiterhin möglich ist, hängt im Wesentlichen von den Regierungen in den Gemeinen und Regionen ab. Ein bundesweites Verbot für Treffen mit russischen Vertretern gibt es nicht. Der deutsche “Föderalismus” wird auch auf diese Weise gelebt. Während die einen, wie etwa der Oberbürgermeister von Erlangen, die Bevölkerung energisch auf die Umsetzung des Operationsplans Deutschland einstimmen, tun andere örtliche Amtsträger alles dafür, dass dieses Szenario nicht einmal für denkbar gehalten wird.
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