Am 2. Februar 2023 jährt sich zum 80. Mal die Niederlage der deutschen Streitkräfte gegen die Sowjets in der Schlacht von Stalingrad, die eine grundlegende Wende im gesamten Zweiten Weltkrieg einleitete. Dass die fast sechs Monate dauernde Schlacht von Stalingrad auch große Opfer für die Zivilbevölkerung umfasste, ist bekannt. Aus Anlass des Jahrestages veröffentlichte Dokumente, die bislang geheim gehalten wurden, geben jedoch neue Einblicke in die Kriegsverbrechen, die in der Stadt und ihrer Umgebung durch Wehrmachtsangehörige begangenen wurden.
Am aufschlussreichsten unter den jetzt veröffentlichten Unterlagen aus dem FSB-Archiv ist ein Ermittlungsbericht des NKWD (Volkskommissariat des Inneren) vom 20. Februar 1943, in dem erste Ergebnisse der Ermittlungsarbeit festgehalten sind. Die deutschen Besatzer haben, so der Bericht, penibel Buch über die präsente Zivilbevölkerung geführt. Aus Verhören deutscher Offiziere, insbesondere eines Dolmetschers des Kommandanten, ergab sich folgendes Zahlenbild: Während bei Beginn der teilweisen Besatzung von Stalingrad nach seinen Angaben rund 250.000 Zivilisten in der Stadt verblieben waren, konnten nach deren Ende die sowjetischen Behörden nur noch 7.661 Personen lebend feststellen. Ein bedeutender Teil des Rückgangs wurde den Verhörten zufolge auf Deportationen von Zwangsarbeitern in die Ukraine zurückgeführt.
Der Bericht führt konkrete Beispiele deutscher Grausamkeit im zwischen August 1942 und Januar 1943 besetzten Gebiet an. So drangen Wehrmachtsangehörige im Oktober 1942 in die Wohnung des Arbeiters Georgi Sotow ein und raubten sie aus. Sotow und seine gesamte Familie (Mutter, Ehefrau und zwei Kinder im Alter von 3 und 7 Jahren) wurden dabei erschossen.
Ende November 1942 hatten Wehrmachtsangehörige den 14-jährigen Jungen Gennadi Koltun entkleidet und ihn später splitternackt in die Kälte geworfen. Zu seinem Glück wurde der Junge in bewusstlosem Zustand von der Frau eines Arbeiters aufgefunden und geborgen. Darüber, was die Wehrmachtsangehörigen ihm sonst angetan haben, schwieg der Junge.
Ebenfalls im November 1942 drangen Wehrmachtsangehörige in die Wohnhöhle von zwei Ende 1941 aus Lugansk nach Stalingrad evakuierten Frauen ein. Beide Frauen wurden vor den Augen ihrer Kinder vergewaltigt und anschließend getötet.
Mehr Glück hatte die Ehefrau eines Chauffeurs, die von drei Deutschen vor den Augen des Ehemanns und der Kinder vergewaltigt, aber zumindest am Leben gelassen wurde. Geschätzt wird, dass nahezu jede der in Stalingrad und Umgebung verbliebenen Frauen während der Besatzung Opfer von mehrfachen Vergewaltigungen geworden ist.
Im Dorf Sirotinskoe raubten 4 deutsche Soldaten eine 50-jährige Bäuerin (Familienname ist im Bericht geschwärzt) aus, vergewaltigten sie und töteten sie anschließend.
In der Stadt Kotelnikowo hatten 12 deutsche Soldaten eine junge Frau, deren Name vom Verfasser des Berichts nicht festgestellt werden konnte, vergewaltigt und getötet.
Im Dorf Awerino des Kreises Kotelnikowo erschossen Wehrmachtsangehörige auf Befehl eines Offiziers, dem ein Jugendlicher zuvor Zigaretten gestohlen hatte, zehn Kinder und Jugendliche im Alter von zehn bis 16 Jahren, darunter den elfjährigen Iwan Safonow, den fünfzehnjährigen Aksjon Timochin und dessen zwölfjährigen Bruder Timofei, den vierzehnjährigen Wassili Gorin, den elfjährigen Emeljan Safonow, den zehnjährigen Semjon Monschin, die Brüder Nikolai (13) und Wassili (14) Jegorow, den dreizehnjährigen Nikifor Nasarenko und den fünfzehnjährigen Konstantin Golowljow.
In der Siedlung Schirki wurden im Oktober 1942 zwei getötete Rumänen aufgefunden. Am selben Tag wurden alle Bewohner des Ortes von Wehrmachtsangehörigen zusammengetrieben und zum Vorfall befragt. Nachdem die Bewohner nicht benennen konnten oder wollten, wer die Rumänen getötet hatte, wählte der befehlshabende deutsche Offizier aus den Anwesenden willkürlich vier Männer aus und ließ sie vor den Augen der Versammelten erschießen. Drei der Erschossenen waren Einwohner des Dorfes und daher namentlich bekannt (im Bericht angegeben als A.I. Urasow, Denis Korotkow und Jegor Smirnow), bei dem Vierten handelte es sich um einen Evakuierten aus Stalingrad, an dessen Namen sich vor Ort niemand erinnern konnte.
Eine Resolution des Volkskommissars des Inneren befahl die Geheimhaltung dieser und anderer Vorfälle, “um keine Racheakte an deutschen Kriegsgefangenen zu provozieren”.
Die betroffenen Kreise des Gebiets Stalingrad (heute Wolgograd) waren im Zuge der im Juli 1942 begonnenen deutschen Offensive unter deutsche Besatzung geraten. Die Offensive der Wehrmacht hatte das Ziel, Stalingrad, den wichtigsten Industrie- und Verkehrsknotenpunkt an der Wolga, einzunehmen und anschließend die Kaukasusregion zu besetzen. Der Verlust von Stalingrad hätte die gesamte Südflanke der sowjetischen Streitkräfte in eine kritische Lage gebracht.
Ein besonders schwarzer Tag für Stalingrad war der 23. August 1942. An diesem Tag flog die deutsche Luftwaffe einen massiven Bombereinsatz gegen die Stadt, die vor dem Krieg rund 500.000 Einwohner zählte und zudem mit Flüchtlingen und Evakuierten aus der Ukraine überfüllt war.
Es war eine schlimmere und folgenreichere Tragödie als das, was Dresden später am 13. Februar 1945 erleben musste: An dem Bombardement nahmen fast 1.000 Flugzeuge der Luftwaffe teil, die über den Tag verteilt im Schnitt je zwei Einsätze flogen. Das erklärte Ziel war es, die Stadt auszulöschen. Durch den Einsatz von Brandbomben stand die gesamte Stadt in Brand, begünstigt noch durch die Vielzahl von Holzhäusern in ihr. Die vorsichtigsten aller Schätzungen gehen von 40.000 Toten an diesem einen Tag und 150.000 Verletzten aus. Wie im Fall von Dresden kann infolge dessen, dass viele Flüchtlinge nicht registriert waren, niemand eine genaue Zahl der Todesopfer nennen.
Von Juli bis November 1942 gelang es der Roten Armee, den Feind in Abwehrkämpfen um Stalingrad zu binden, und am 22. November 1942 hatten die sowjetischen Truppen die deutsch-faschistischen Truppen in einen Kessel eingeschlossen. Die Schlacht um Stalingrad endete am 2. Februar 1943 mit der Kapitulation der 6. Armee der Wehrmacht unter Feldmarschall Friedrich Paulus.
Die deutschen, rumänischen und italienischen Faschisten hatten nicht mit einem so hartnäckigen und heldenhaften Widerstand der sowjetischen Truppen gerechnet und ließen ihre Wut darüber an den wehrlosen Einwohnern der Stadt und der Region aus. Wehrmachtssoldaten brachen in Häuser ein und nahmen alles mit, was sie in die Finger bekamen. Selbst Kinderkleidung und Unterwäsche wurden nicht verschont. Die gestohlenen Sachen und Wertgegenstände schickten sie per Paket nach Deutschland.
Unmittelbar nach dem Ende der Schlacht von Stalingrad begann die Stalingrader Direktion des Nationalen Nachrichtendienstes zusammen mit der Spionageabwehr “SMERSch” mit dem Screening (Filtern) von Kriegsgefangenen, wozu auch die Sammlung von Informationen über die von den Besatzern begangenen Kriegsverbrechen gehörte.
Das Ermittlerteam des NKWD hat 50.000 Kriegsgefangene durch Verhöre und speziell rekrutierte Agenten befragt. Diese dienten auch dem Aufspüren der zahlreichen Minenfelder, die die Besatzer angelegt hatten. Insgesamt ergaben die Verhöre rund 300 Minenfelder, in denen bis zu 150.000 Panzerabwehr- und Antipersonenminen verlegt waren. Die von den Kriegsgefangenen erhaltenen Informationen erleichterten die Arbeit der mit der Minenräumung befassten Pioniereinheiten der Roten Armee erheblich.
Nach der Befreiung der Stadt haben Mitarbeiter des Kommissariats für Staatssicherheit (UNKGB) des Gebiets Stalingrad die Hauptverantwortlichen für die während der Besatzung begangenen Gräueltaten ermittelt. Zu ihnen gehörte Generalmajor Paul Lening, Leiter der deutschen Militärkommandantur in Stalingrad, der in den von den deutschen Invasoren besetzten Gebieten Raubüberfälle und Misshandlungen von Sowjetbürgern organisierte.
Die Zahl der in Stalingrad insgesamt umgekommenen Zivilisten ist bis heute nicht zuverlässig festgestellt worden. Während der Aufräumarbeiten bis Juli 1943 wurden über 200.000 Leichen von Zivilisten geborgen. 41.685 Häuser (90,5 Prozent des Vorkriegsbestandes) waren vollständig zerstört. Inklusive der Rückkehrer von der anderen Seite der Wolga zählte die Stadt 1945 nur noch 32.181 Einwohner (von etwa 500.000 vor dem Krieg). Die Stadt war mit nicht explodierten Granaten und Bomben übersät, entlang der ehemaligen Kampflinien gab es Minenfelder, Entminungseinheiten mussten die Stadt räumen ‒ sie neutralisierten 328.612 Minen, 1.169.443 Granaten und Bomben. Erst im Juli 1945 war es wieder sicher, sich in der Stadt zu bewegen.
Mehr zum Thema – Berichterstattung zum 80. Jahrestag der Schlacht von Stalingrad