Eine Lesermeinung von Mikhail Balzer
Beim nächsten Treffen mit seinem Freund Sergej kam noch ein erstaunlicher Aspekt der offenbar um sich greifenden “Spionitis” hinzu, die unser Balkonist zufällig bei der Suche nach neuen Radioproduktionen gefunden hatte. Als ehemaliger Tontechniker ist er seit jeher Fan des thematischen Radiojournalismus und der gut gemachten Hörspiele traditioneller Art, welche heuer leider mangels Qualität im Aussterben begriffen sind. In der ARD-Audiothek fand er nun aber überraschend den Thriller “Die Anschlags – Russlands Spione unter uns“. Zunächst sei der geschätzte Leser mit den gleichen Informationen versehen, die er am selben Abend Sergej und Kater Murr III präsentieren wollte.
Trotz des reißerischen Titels war es natürlich kein Thriller, sondern “ein sechsteiliger serieller Storytelling-Podcast”, der gemäß dem Vorwort in der WDR-Mediathek als “eine Kooperation der WDR Featureredaktion und der Recherchekooperation von WDR und NDR” bezeichnet wird. Das kann, nein: Das muss ja für Qualität sprechen! Allein schon aufgrund der bombastischen Worthülsen-Ungetüme dieser Einführung. Die Radioproduktion wurde bereits im Juni ausgestrahlt und behandelt die Geschichte des im Jahre 2011 festgenommen Spion-Ehepaars Anschlag (sie trugen tatsächlich diesen (Tarn-)Namen). Soweit zunächst, so faktisch.
Im zugehörigen Trailer vernimmt der Zuhörer jedoch bereits Erstaunliches – und überlegt: Wäre dies nicht im qualitätsgesicherten öffentlich-rechtlichen Rundfunk gesendet worden, könnte man beinahe auf die Idee kommen, der Zuhörer solle in der halbprofessionellen Enttarnung vermeintlicher Spione in der Nachbarschaft ausgebildet werden. Nach einem einleitenden Tonausschnitt, der auf das perfekte Leben in einer ländlich geprägten Kleinstadt abzielt, taucht der Name “Anschlag” wie ein Blitz aus heiterem Himmel auf. Anschließend stellt sich einer der Co-Autoren vor, um gleich zur Sache zu kommen: “Wie Russland uns seit Jahrzehnten mit illegalen Spionen ausspioniert” (Audioeinspielung). “Jetzt mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine sind solche Themen plötzlich wieder super präsent: Giftanschläge, Morde, Hackerangriffe, Desinformation, Fake News, Trollarmeen und eben auch Spione” (dramatische Audioeinspielung).
Es erscheint wirklich erstaunlich, was der Radiosprecher da so alles mit dem konkreten Fall des Ehepaars Anschlag aus dem Jahre 2011 assoziiert. War das enttarnte Spion-Ehepaar also Putins multifunktionale Wunderwaffe, die von Giftanschlägen über Cyberattacken bis zur Spionage alle Register bedienen kann? In Wirklichkeit wohl nicht, denn ihnen konnte “nur” Spionage für einen Auslandsgeheimdienst nachgewiesen werden. Das soll dann wohl jenes “Storytelling” sein!
Der anfangs noch skeptisch-neugierige Zuhörer wird gleich zu Beginn des ersten Teils (Titel: “Mein Nachbar, der Spion”) darauf eingestimmt, wohin die (Denk-)Reise gehen soll: “Wie gut kennt ihr eure Nachbarn? Vielleicht seid ihr schon seit vielen Jahren Freunde … feiert gemeinsam Gartenpartys, vielleicht sind eure Kinder befreundet, gehen ein und aus. Stellt euch mal vor, eure Nachbarn haben ein Geheimnis (Piepstöne werden eingeblendet), da ist etwas hinter der bürgerlichen unscheinbaren Fassade. Ein zweites Leben. … Und was ist das eigentlich für ein merkwürdiger Akzent? Manchmal ist der Grund für dieses Verhalten eine geheime Mission.”
Doch es geht im phänomenalen ersten Teil dieses seriellen Dingsbums noch weiter und wird immer vertrackter. Da wird plötzlich der Bogen zu internationalen Spionagefällen aus den Jahren 2022 und 2023 gespannt, zur Ausbildung “illegaler Agenten”, es folgen eingestreute Zitate Wladimir Putins (ins Deutsche übersetzt), um offenbar das weitschweifige Fundament des “Storytellings” zu errichten. So weitschweifig wird dieses halb dokumentarische Fundament gebaut, dass unser Balkonist bereits beim Zuhören des ersten Teils fast eingenickt wäre, wenn nicht plötzlich Interviews mit ehemaligen Nachbarn des Ehepaars eingestreut worden wären.
Selbstredend müssen deren Aussagen durch den Sprecher immer wieder für den unwissenden Hörer gedeutet und kommentiert werden. Zum Beispiel mit pikanten Hinweisen, was einem am suspekten Verhalten dieser “netten Nachbarn von nebenan” hätte auffallen können und müssen. Klar doch, ein jeder muss bei gewissen Schrullen seiner Nachbarn sofort an russische Spione denken, gerade wenn diese auch noch einen osteuropäischen Akzent haben!
Um dem naiven deutschen Radiohörer die Neigung der Russen zur Spionage weiter zu verdeutlichen, wird kurz der Titelsong der russischen Fernsehserie “17 Augenblicke des Frühlings” aus den 70er-Jahren über den russischen Spion Stierlitz eingespielt, und eine sanfte Frauenstimme erläutert: “Das ist eine perfekte Hymne für alle Spione.” Immerhin wird eingeräumt, dass dies die sowjetische Reaktion auf den Kinoerfolg von “James Bond” gewesen sei.
Nun stellt sich für unseren guten Balkonisten schon die Frage, ob und wie er diese Geschichte seinem Freund erzählen soll, ohne ihn zu sehr aufzuregen – auch wenn er sich selbst schon gehörig echauffiert hat. Unser Balkonist ahnt bereits, wie sein deutsch-russischer Freund, vermutlich wenig amüsiert, reagieren wird: “Ja ja, vielleicht ein Verdachtsfall, der weiter observiert werden muss – ich habe auch immer noch diesen russischen Akzent und pflege gewisse ‘suspekte’ russische Traditionen. Also bin ich unbedingt auch als ‘verdächtig’ anzusehen, und du solltest dich nicht mehr mit mir treffen. Oder vielleicht stehst auch du schon unter der Beobachtung deiner Nachbarn?” So oder so ähnlich dürfte er sich wohl äußern, vielleicht ohne die letzten beiden ironischen Sätze.
Doch war es nicht so ähnlich schon anno 1914, als die große antirussische Spionitis Einzug hielt – mit übler Nachrede, Observierungen, Nachstellungen und sogar körperlicher Gewalt? Natürlich gab es damals wie heute vereinzelt begründete Beispiele. Aber die vielfach unberechtigten Verdächtigungen rechtfertigen eben nicht die geschickte Inszenierung solcher Ideen, die sich dann zu großen massenparanoiden Ideen verselbstständigen und verfestigen können.
Und wie sollen wir jene anderen, also jene speziellen und geheimnisvollen Dienste des Werte*Westens bewerten? Was halten wir denn vom seinerzeit geleakten “Abhören unter Freunden”, das unserer Langzeitkanzlerin zufolge “gar nicht angehe” – aber gegen das eben keine wirklich deftige diplomatische Note an das amerikanische Außenministerium erfolgte?
Nun ja, fragen sie in einem Zufallsinterview auf der Straße mal die Leute, ob sie wissen, was die “NSA” ist. Fragen Sie dann bitte weiter, wer damals die Informationen über das offenbar regelmäßige Belauschen europäischer Politiker publik gemacht hatte und wie der “Whistleblower” im Werte*Westen verfolgt wurde. Um es vorwegzunehmen: Sie werden auf erstaunliche Unkenntnis stoßen.
“Nein, natürlich nicht!” Wie sollte auch ein demokratisch-liberaler und stets unter vollster politischer Kontrolle stehender Geheimnisdienst des besseren Westens auf die Idee verfallen, gleichartige Methoden einzusetzen?
Mehr zum Thema – FSB: Ukrainische Geheimdienste setzen Spionagegeräte bei Terrorplänen in Russland ein