Eine Lesermeinung von Mikhail Balzer
Unser Balkonist, sonst ganz Skeptiker, mit einer bisweilen misanthropischen Grundstimmung, konnte das Viertelfinalspiel der gastgebenden Fußball-Nationalmannschaft gar nicht erwarten. Dieses Mal konnte er es sogar zunächst mit besonders großer Begeisterung genießen, derweil seine Frau sich “zum Lesen eines guten Buches, sicherlich nicht über diesen langweiligen Ballsport” in das Gästezimmer zurückgezogen hatte.
Nur er und natürlich der schwarze Hauskater Murr III saßen endlich ungestört vor dem Fernsehschirm. Chips, Katzenleckerlis und gekühltes Bier standen bereit, um endlich mit zunehmender Spannung dem Spielverlauf zu folgen. Unglaublich, welche Emotionen sich abspielten, nicht nur bei Reportern und den Zuschauern im Stadion, sondern auch vor dem kleinen Fernseher auf dem Balkon! Da erkannte sich unser Balkonist ja selbst nicht mehr! Auch Murr III schaute angestrengt auf den Bildschirm (oder lauschte er nur den illustren Aussagen des Kommentatorenteams?). Bisweilen gab er gar seine zustimmenden oder abwertenden Katerstimmen von sich.
Welch ein ständiges Hoch und Runter, wie im Fieberwahn, oder wie beim Trampolinspringen in der Außenpolitik! Da spielten zwei Teams unterschiedlicher taktischer Prägung auf höchstem Niveau gegeneinander, schenkten sich nichts, kämpften und rackerten: eben wie im besagten Fieberwahn. Natürlich pushte die zahlenmäßig überlegene Zuschauerunterstützung die Heimmannschaft ein wenig, aber das gehört eben auch zum Sport dazu. Es gehört dazu, sogar in dieser ach so diversen und regelbasierten Zeitenwende. Und zum Glück wurden keine kämpferischen tonnenschweren Großkatzen (wie Leoparden, Geparden und Panther) – oder die hundeartigen Marder auf den Platz mobilisiert, mag ein zynischer Fußballhasser einwenden …
Alles lief so gut, so schön wie vom Leberwurst-Ole vor der EM schon bestellt: wollte er doch Parallelen sehen zwischen der wieder erstarkten Fußball-Nationalmannschaft (ja, man liest richtig: Sie darf plötzlich wieder so genannt werden!), seiner Ampel und überhaupt der Perspektive Deutschlands. Es solle wieder stark aufwärtsgehen, quasi mit “Doppelwumms” und auch mit “Vorwärts immer, rückwärts nimmer …” Ebenso wie Anno Tobak 2006 auch bei der Heim-WM mit dem “Sommermärchen”, als sich nach dem unerwarteten und hochemotionalen Finaleinzug so etwas wie ein energetischer Stimmungsaufschwung zeigte, den sich alsbald eine Langzeit-Kanzlerin ans Revers geheftet hatte. So oder ähnlich waren dies wohl nicht nur Oles Wünsche: auch weitere, neuerdings als Fußballfans dilettierenden Kabinettsmitglieder dürften ähnlich gedacht haben. Und angeblich wäre Ole ja im Stuttgarter Stadion anwesend, so wie auch andere Gratis-Abonnenten dieser schweineteuren (und hoffnungslos ausverkauften) Tickets. Wirklich wahrgenommen hat ihn unser der Balkonist nicht – oder war die Einblendung ausgerechnet während seiner Toilettenpausen nach dem reichlicher als sonst genossenen Bier?
Doch trotz so viel des (beinahe preußischen) Glanzes und der Gloria, gab es dennoch Schattenseiten, sozusagen emotionale Tiefschläge (ob die denn unbedingt zum Sport dazugehören müssen?). Hier der etwas flatterhaft wirkende Schiedsrichter, fast so flatterhaft wie die schmetterlingshafte Außendiplomatie – oder setzte er nur die in England übliche Regelauslegung standhaft um, unbekümmert von möglichen Einflussnahmen aus DFB-Kellerräumen fernab des Geschehens? Früher sagte man noch in Sportlerkreisen “Man kann hier einen Elfmeter geben, muss man aber nicht” und akzeptierte so in stoischer Weise diese “Tatsachenentscheidung” des Referees.
Die internationalen Kommentare zu dem Spiel, mit Ausnahme einer italienischen Zeitung, schienen jedenfalls dieser “möglicherweise das Spiel beeinflussenden oder unglücklichen Entscheidung” keinerlei Aufmerksamkeit zu schenken. Also greifen wir besser wieder auf unser obiges Argument zurück, dass so etwas eben zum Sport dazugehört (Pardon: Darf man dies im wirklich besten D*Land aller Zeiten vielleicht gar nicht so sagen?).
Nun ja, des einen Freud’, des anderen Leid: Im Zwangsgebühren-Fernsehen philosophierte man munter über einen “womöglich eindeutigen Elfmeter”, den nur ein englischer Schneider (namens Taylor) nicht gesehen hätte. Hingegen wurde man sich nicht bewusst, dass das durchaus glückliche und sehr späte Ausgleichstor für die Gastgebermannschaft eben auch hätte nicht fallen können.
Und dann, wie “im großen, wie im Dramen-Theater” kam es so, wie es kommen musste: zunächst eine weiterhin wie fieberhaft aufspielende weiß-schwarze Mannschaft (das gendergerechte rosa-violett-purpurne Trikot schien den Verantwortlichen wohl doch nicht ganz so angemessen). Sodann bei nachlassender Kraft vergebene Torchancen, die den wahrscheinlichen Sieg bedeutet hätten, dazu noch diese oben zitierte “unglückliche Schiedsrichterentscheidung”…
Dieser sich immer höher aufschwingende Spannungsbogen war leider gefolgt von einer kurzen Konzentrationsschwäche der nach mehr als zwei Stunden ausgelaugten Spieler. Oder war es nach den geflügelten Worten vom strafenden “Fußballgott” die Folge der zuvor vergebenen Torchancen?
Wie dem auch sei: Dann also, zuletzt und kurz vor Schluss, da kam das Melodram zurück, da kam es bedauerlicherweise ganz und gar unerwartet. Da kam der schreckliche “Doppelrumms”: das Tor zum Doppelt zu Eins (2:1) für die ebenfalls aufopfernd kämpfenden Südeuropäer, denen eben auch unsere ganze sportliche Hochachtung gebührt.
Schade: Aus und vorbei! Das letzte Bier, obgleich soeben erst eingegossen, plötzlich ganz schal und faulig schmeckend, so wie eben die mutmaßliche Stimmung der “beleidigten Leberwurst” auch, die jedoch nicht mehr in der Spielübertragung eingeblendet wurde. Der Rest war dann eher betroffenes politmediales Schweigen. Zu lesen sind nach dem Spiel überwiegend sportliche Stimmen und Kommentare, auch aus anderen und unbeteiligten europäischen Ländern.
“Aus und vorbei”, möchte man also mit tiefer Leidensmiene rufen, dieses Mal kein “Sommermärchen”, nicht wie auf Bestellung. Da ist sie auch plötzlich wieder, die “German Angst”, das biedermeierliche Zurückziehen ins eigene Schneckenhaus.
Aber zum Glück ist Sport eben genau so. Zumindest, wenn er nicht gänzlich durchgeplant nach Drehbuch, politisiert und korrumpiert daherkommt. Zum Glück für den wirklichen Sport, bei dem Sieg und Niederlage so eng beieinander liegen können, ist es eben genau so! Und so gilt immer noch der fußballphilosophische Ausspruch des unvergessenen Sepp Herberger aus einer ganz anderen Zeit, nämlich der ohne Zeiten- oder 360 Grad-Wende: “Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.”
Und was letztlich bei unseren beiden Fernsehzuschauern auf dem Balkon übrig bleibt, das ist eine Katerstimmung. Und diese ernüchternde Emotion liegt sicherlich nicht nur an dem Balkon …
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