Die bevorstehende Heizperiode in Europa fällt noch dieses Jahr mit dem Auslaufen des Transitvertrags zwischen der EU, Naftogaz und Gazprom zusammen. Das aktuelle fünfjährige Abkommen, das die Versorgung der europäischen Kunden mit Gas aus Russland und den Transit durch die Ukraine regelt, läuft am 31. Dezember aus. Der Vertrag gestaltet den Fluss von 65 Milliarden Kubikmetern Gas ab dem Jahr 2020 und jeweils 40 Milliarden Kubikmeter in den Jahren darauf.
Mehr als 22.000 Kilometer Gaspipelines verlaufen durch das Territorium der Ukraine, was sie zum wichtigsten Akteur auf dem europäischen Energiemarkt in Europa gemacht hat. Bis Ende dieses Jahres könnte Kiew seine strategische Rolle jedoch verlieren.
Es sei sehr unwahrscheinlich, dass der neue Vertrag zwischen Moskau und Kiew über den Gastransit nach Europa durch die Ukraine bis zu seinem Auslaufen im Dezember erneuert werde, berichtet die Nachrichtenagentur Bloomberg.
In der ohnehin angespannten Situation auf dem europäischen Energiemarkt bedeute dies noch mehr Unsicherheit, während Russland eine der zwei gebliebenen Transitrouten nach Europa verlieren werde.
Außerdem könnte die Ukraine jene Einkommensquelle verlieren, die es Kiew ermöglicht, die Energieinfrastruktur des Landes aufrechtzuerhalten. Das Ende des Vertrags bedeute auch, dass das Land seine langjährige strategische Position als Lieferant erschwinglicher Energie für die westlichen Verbündeten verlieren werde.
Für mehr als 50 Jahre seien es die Gaslieferungen gewesen, die Russland, Europa und die Ukraine verbunden hätten, so Bloomberg. Nach dem Zerfall der Sowjetunion sei die Transitfrage ein Teil der angespannten Beziehungen zwischen Kiew und Moskau gewesen.
Der aktuelle Vertrag wurde am 30. Dezember 2019 unterzeichnet und seitdem haben sich die politische Lage und die Situation auf dem Energiemarkt in Europa völlig geändert. Die Gasflüsse über diese Route betragen derzeit weniger als fünf Prozent der gesamten Erdgasversorgung des Kontinents. Trotzdem reicht diese Menge aus, um die Energiesicherheit zu beeinflussen, berichtet die Agentur.
In der jetzigen Situation sei es die Ukraine, die eine Wiederaufnahme des Transitabkommens am meisten benötige. Laut Angaben von Bloomberg riskiere Kiew den Verlust von bis zu 725 Millionen Euro (800 Millionen US-Dollar) jährlich an Transitgebühren.
Die meisten europäischen Kunden von Gazprom hätten Alternativen zu Erdgas aus Russland gefunden. Vor Kriegsbeginn in der Ukraine habe Deutschland die Hälfte seiner Gasimporte aus Russland eingeführt. Derzeit habe Berlin die Pipeline-Lieferungen aus Norwegen und LNG-Importe aus aller Welt erhöht. Derzeit sei Deutschland von dem Gastransit durch die Ukraine unabhängig. Allerdings forderten die Oppositionsparteien und führende Unternehmen, zu den preisgünstigeren Pipeline-Lieferungen aus Russland zurückzukehren.
Österreich und die Slowakei, die Hauptempfänger des Gases aus Russland durch die Ukraine, hätten sich bereit erklärt, darauf zu verzichten, schreibt Bloomberg.
Allerdings habe Moskau auch andere Möglichkeiten für Gasexporte. Hierzu gehörten die Pipelines durch die Türkei, eine Weiterentwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen zu Peking sowie die Ausfuhr von LNG ins Ausland.
Vergangene Woche erklärte Wladimir Putin, Russland sei bereit, weiterhin Gas durch die Ukraine zu liefern. Am Rande des Östlichen Wirtschaftsforums in Wladiwostok sagte der russische Präsident, Moskau könne Kiew nicht zwingen, das Abkommen zu verlängern, könne aber diese Gasmengen auf alternative Exportrouten wie die Türkei umlenken.
Kiew führt Gespräche über die Lieferung von Gas aus Aserbaidschan in die EU, um die Rolle der Ukraine als Transitland aufrechtzuerhalten. In der vergangenen Woche hatte der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij erklärt, dass Kiew den Vertrag mit Moskau nicht verlängern werde. “Niemand wird das Abkommen mit Russland verlängern, das war’s. Was den Transit von Gas anderer Unternehmen angeht, so werden wir und die EU, wenn die Anfrage einiger unserer europäischen Kollegen weitergeht, ihre Anfrage in Betracht ziehen”, hatte er auf einer Pressekonferenz am 27. August angekündigt.
Anfang Juli sagte er in einem Interview mit Bloomberg Television in Kiew, dass die ukrainische Regierung derzeit alternative Schritte prüfe, wie die Pipeline von einem anderen Gaslieferanten genutzt werden könnte. “Wir wollen den Gasvertrag mit der Russischen Föderation nicht verlängern. Wir wollen nicht, dass sie hier Geld verdienen.”
Aserbaidschan plant eine Erweiterung seiner Gasexporte nach Europa und verhandelt diese Lieferungen bereits mit drei Staaten, hat Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew vergangene Woche auf dem internationalen Ambrosetti-Forum im italienischen Cernobbio erklärt. Um welche Länder es geht, hat Alijew nicht präzisiert.
Baku liefert sein Gas bereits an acht europäische Staaten: Italien, Griechenland, Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Serbien, Slowenien und Kroatien. Außerdem hat Aserbaidschan einen Vertrag über die Verdoppelung der Exportvolumen bis 2027 mit den EU-Ländern abgeschlossen.
Im vergangenen Jahr habe Aserbaidschan 24 Milliarden Kubikmeter Erdgas exportiert, die Hälfte davon sei nach Europa geflossen, berichtet Bloomberg unter Bezugnahme auf das Ministerium für Energie. Es werde erwartet, dass die Gasexporte aus Aserbaidschan in Europa dieses Jahr 13 Milliarden Kubikmeter erreichten. Außerdem werde Italien der größte Verbraucher sein.
Allerdings sei die Gasförderung in Aserbaidschan unzureichend, um das Erdgas aus Russland kurzfristig völlig zu ersetzen, berichtet Bloomberg. In den Vereinbarungen zum Ersatz von russischem Gas werde höchstwahrscheinlich die Übertragung der Erdgaslieferungen aus Russland auf andere Gaspipelines vorgesehen.
Verträge mit Kasachstan und anderen zentralasiatischen Lieferanten könnten ebenfalls eine Alternative sein, aber es bleibe keine Zeit, um einen Plan auszuarbeiten, bevor der aktuelle Vertrag mit Gazprom auslaufe.
Wie Bloomberg schreibt, es bestehe die Gefahr, dass der Ausfall der Transitroute durch die Ukraine zu Volatilität auf dem europäischen Markt führe. Unterbrechungen der Gaslieferungen aus Norwegen oder Probleme bei der LNG-Beförderung könnten in Verbindung mit kaltem Wetter zu einem starken Preisanstieg führen.
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