Von Hans-Ueli Läppli
Vor dem Wiener Landesgericht wurde kürzlich ein Fall verhandelt, der in Österreich und darüber hinaus Empörung ausgelöst hat. Ein 17-jähriger Syrer, der 2015 mit seiner Familie nach Österreich geflüchtet war, wurde des Vorwurfs der Vergewaltigung des damals zwölfjährigen Mädchens Anna in einer Parkgarage für nicht schuldig befunden.
Das Urteil, das im Zweifel für den Angeklagten ausging, wirft nicht nur Fragen über die juristische Handhabung sexueller Gewalt, sondern auch über die gesellschaftliche Haltung zu Opfern und Tätern auf.
Die Staatsanwaltschaft beschuldigte den Angeklagten, das Mädchen gegen ihren Willen in einer Parkgarage zum Geschlechtsverkehr genötigt zu haben. Trotz mehrfacher Ablehnung durch Anna, wie die Staatsanwältin betonte, entschied die Richterin, dass keine Gewalt im Spiel gewesen sei und der Vorwurf einer Vergewaltigung nicht haltbar war.
Sie begründete die Entscheidung damit, dass es sich um eine einvernehmliche Handlung gehandelt habe, da der Angeklagte das Mädchen “überredet” habe.
Diese Entscheidung wurde nicht nur von vielen als ungerecht empfunden, sondern auch als Symbol für eine Gesellschaft, die in der Frage von sexueller Gewalt zu oft zwischen Tätern und Opfern differenziert, statt schlicht und einfach den Opferschutz in den Vordergrund zu stellen.
Die Mutter des Mädchens, die fassungslos im Gerichtssaal saß, erlebte zudem eine Demütigung, als der Angeklagte eine Schadenswiedergutmachung von lediglich 100 Euro anbot, statt der geforderten 3000 Euro. Diese Geste, bei der der 17-Jährige den Geldschein vom Verteidiger nahm und der Familie des Opfers auf den Tisch legte, war für viele ein Schlag ins Gesicht.
Für den Anwalt der Familie war das Angebot der Schadenswiedergutmachung “ein Hohn”, der als zusätzlicher Schlag ins Gesicht des Opfers empfunden wurde. Inmitten dieses Prozesses stellt sich eine zentrale Frage: Wie kann ein Rechtssystem, das vermeintlich die Rechte der Opfer schützen soll, eine so weitgehende Entwertung der Erfahrungen des Opfers zulassen?
Das Urteil, das von der Richterin mit dem Argument des “Überredens” begründet wurde, lässt viele Fragen offen – nicht nur zu den rechtlichen Aspekten sexueller Gewalt, sondern auch zu den gesellschaftlichen Implikationen.
Sollte ein Gericht ein solches Urteil fällen, wenn die Schilderung des Opfers und die rechtlichen Hinweise auf Gewaltanwendung durchaus glaubwürdig erscheinen? Die Diskussion um den Fall Anna zeigt einmal mehr die Komplexität und die Sensibilität im Umgang mit sexuellen Übergriffen und den notwendigen Reformbedarf im Bereich der Justiz.
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