In einem Interview mit der Berliner Zeitung nimmt Frank Castorf wie gewohnt kein Blatt vor den Mund. Mit Bezug auf seine aktuelle Inszenierung von Hans Falladas “Kleiner Mann, was nun?” beim Berliner Ensemble geht um die Radikalisierung des Kleinbürgers, der wirtschaftlich und politisch entmachtet wird, und entsprechend reagiert. Ab einem bestimmten Punkt muss dann eine gesellschaftliche Zäsur einsetzen, meint der 73-Jährige:
“Ich freue mich, wenn eine Situation eskaliert. Wenn man der Frage ‘wie soll ich weiterleben?’ nicht mehr ausweichen kann. Wäre es nicht schön, wenn wir ein bisschen so wie Lämmchen [Protagonistin in Falladas Roman und Castorfs Inszenierung] wären, die sich ein ganz klein bisschen Wohlstand wünscht zwischen all den teuren Autos auf dem Kurfürstendamm und dann sagt, dass sie beim nächsten Mal die Kommunisten wählt.”
Wer heute für die Dauerkrise verantwortlich ist, steht für Castorf auch fest: “Mir fällt dann ‘Das politische Lied’ der Punkband ‘Die Kassierer’ aus Bochum-Wattenscheid ein: ‘Wer hat uns verraten, Sozialdemokraten. Wer war mit dabei? Die grüne Partei’.” Der universalistische Kampf der Regierung “gegen Rechts”, also sämtliche der zahlreichen Konfliktlinien darin einzuordnen und die Konflikte dadurch “von oben” und mit Hypermoral einzufrieren, erinnert Castorf an die späte DDR:
“Die vielen, die gegen rechts oder was sie dafür halten, auf die Straße gehen, erinnern mich mehr an die Demonstrationen zum Tag der Republik und zum 1. Mai in der DDR, wo alle Erich Honecker, der tatsächlich bei den Nazis im Zuchthaus in Brandenburg gesessen hat, mit ihren roten Fahnen zugewinkt haben und dann schnell abgebogen sind, um einen schönen freien Tag zu haben. Nach dem Motto: Ich mach, was ihr wollt, aber ansonsten leckt mich am Arsch.”
Gerade das sich darin zeigende kleinbürgerliche “Gutseinwollen” sieht der Berliner kritisch. Es ist – in typisch deutscher Manier – eine “nicht sehr haltbare Illusion”. Wenig verwundert ist Castorf dann auch über die wütenden Ostdeutschen, die in letzter Konsequenz als Zeichen der Ablehnung dieser Bundesrepublik und der “Erfahrung” von 35 Jahren “Wiedervereinigung” dann eben AfD wählen, nicht zuletzt durch die immer noch vorhandene Zweiklassengesellschaft, die sich seit den 1990er-Jahren zementiert und durch die Dauerkrise der letzten Jahre noch verstärkt hat:
“Die AfD ist die Rache des Ostens. Es ist ja auch ein Skandal: Wer leitet die Redaktionen, Theater, Museen, Hochschulen, wer sitzt den Gerichten vor? Christoph Hein hat zutreffend beschrieben, wie die Westprofessoren, die zu Hause keine Posten abbekommen haben, aus der zweiten Reihe in die offene Wunde Ostdeutschlands stießen. Wie die sich unterbringen und in aller Selbstverständlichkeit bereichern wie die ehemalige rbb-Intendantin. Ja, und die Rache löst den pawlowschen Reflex auf der anderen Seite aus.”
Das bedeutet: “Jetzt will der Westen die Mauer wieder hochziehen. Schnell die AfD-Wähler ausgrenzen und von den Institutionen fernhalten – aber wie soll das gehen, ohne die Wahlkabinen mit Überwachungskameras auszustatten? Und dann sind wir in der DDR plus.” Ähnlich hatte sich zuletzt auch der Entertainer Harald Schmidt geäußert. Castorf stellte allerdings auch klar: “Man schämt sich ein bisschen, dass so gewählt wird, aber man kann es ihnen doch nicht verbieten. Der Zustand gefällt mir nicht, aber ich kann nichts dazu sagen, weil ich keine richtige Lösung sehe.” Die aktuelle Kultur der Cancel Culture habe er jedenfalls so ähnlich schon mal erlebt:
“Mit unausgesprochenen Pflichten und Verboten muss man heute auch zurechtkommen. Man wird so schnell kaltgestellt, wenn man etwas Falsches sagt. Ich kenne das noch. Es geht nicht darum, dass jeder, der den Mund aufgemacht hat, erschossen wurde. Das Unangenehmste war die innere Übereinstimmung, die meisten sind damit gut hingekommen, indem sie sich nicht mit den Bonzen anlegten. Und als es dann ans Eingemachte ging, haben sie nach dem Mercedes und der Banane gegriffen.”
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