von Dagmar Henn
Kennen Sie das Spiel “stille Post”? Je mehr Teilnehmer es hat, desto lustiger wird es. Am Anfang sucht sich jemand ein schwieriges Wort aus und flüstert es seinem Nachbarn zu. Dann wandert es in der Runde weiter, von Ohr zu Mund zu Ohr, bis es wieder beim Absender angekommen ist. Der nennt dann laut das ursprüngliche Wort und das, was daraus geworden ist. Gerade auf Kindergeburtstagen sind die Ergebnisse sehr witzig.
Wenn so etwas allerdings politisch gespielt wird, und auch noch entlang einer geopolitischen Konfliktlinie, dann sind die Ergebnisse nicht so heiter, sondern gelegentlich ganz schön gruselig. Aber folgen wir der Geschichte einmal andersherum. Da äußert sich der Grüne Konstantin von Notz gegenüber dem Handelsblatt:
“Seit Beginn des klar völkerrechtswidrigen Angriffskriegs auf die Ukraine sind offenkundig auch die Auslandsvertretungen angewiesen, die Fakenews der russischen Staatsführung vermehrt auch selbst zu verbreiten.”
Und behauptet, oftmals würden die Aussagen “innerhalb kürzester Zeit als plumpste Fälschungen enttarnt”. Auch ein FDP-Vertreter gibt seinen Senf dazu:
“Indem Vertreter des russischen Staates ihre Lügen in Deutschland verbreiten, wird gezielt Zwietracht in der Gesellschaft gesät. Darin liegt eine Aggression gegen die Bundesrepublik. Die Bundesregierung kann darauf mit weiteren Ausweisungen russischer Diplomaten antworten und sollte sich diesen Schritt für eine weitere Verbreitung von gezielter Desinformation vorbehalten.”
Die CSU-Abgeordnete Lindholz fordert gar:
“Jetzt müssen alle Mittel des wehrhaften Rechtsstaats ausgeschöpft werden, um diese Versuche auszubremsen.”
Und dann wird der FDPler Kuhle noch mit der schönen Formulierung gebracht, in Deutschland dürfe zwar niemand wegen seiner Herkunft oder seiner Sprache diskriminiert werden, was auch für Russen gelte, aber …
Da muss ja etwas Furchtbares passiert sein, denkt sich der Leser, wenn rhetorisch solche Geschütze aufgefahren werden. Und das Handelsblatt vermittelt auch diesen Eindruck. Ganz, ganz böse russische Propagandaverschwörung, eine Bedrohung der Volksgemeinschaft. Wahrscheinlich arbeiten die finsteren Russkis schon wieder daran, wie sie Berlin einnehmen können. Wenn schon der Verfassungsschutz warnt. Das muss man ernst nehmen.
Meinung
Irgendwie bin ich mir nicht sicher, ob die Kollegen vom Handelsblatt bei ihren Recherchen tiefer gingen, als schlicht die Meldung des Bundesamtes für Verfassungsschutz sofort für bare Münze zu nehmen. Als wüsste man nicht, dass es bei wirklich schlimmen Dingen entweder nichts mitbekommt, oder aber bis über beide Ohren selbst mit drinsteckt und deshalb nichts sagt; dass also alles vom Verfassungsschutz Gesagte immer nur weniger schlimme Dinge betreffen kann. Egal, wie auch immer es in den letzten Jahrzehnten war, jetzt sind sie die Guten.
Also was schrieb nun der Club der Schlapphüte? In seinem Sicherheitshinweis für Politik und Verwaltung vom 11. April unter dem Titel “Betreff: Krieg in der Ukraine” befasst er sich – nein, nicht mit Ukronazis, die sind wirklich schlimm, und drinstecken tun sie da wahrscheinlich auch, wobei sie da mit den Kollegen vom BND ins Gehege geraten könnten, was die nicht gerne sehen und was dann dazu führt, dass die Jungs vom Verfassungsschutz irgendwelche Blessuren … – nein, wir wollen uns nicht mit den Liebesbeziehungen zwischen deutschen Nachrichtendiensten befassen, sondern brav aus dem Hinweis zitieren. Da wird also als Sachverhalt berichtet, die russische Botschaft habe ein E-Mail-Postfach eingerichtet, über das Betroffene Fälle von “Mobbing, Belästigungen, Drohungen, Angriffen oder physischer Gewalt” melden könnten, und außerdem auf der Website unter dem Hashtag #StopHatingRussians Fälle aufgelistet. Und sich thematisch mit zunehmender “Russophobie” befasst. (Diese Anführungszeichen stammen so vom Bundesamt für Verfassungsschutz).
So, und jetzt das Schmankerl, die Bewertung.
“Die Russische Botschaft überhöht auf Ihrer Homepage (‘SOS’-Postfach) und in den sozialen Netzwerken (#StopHatingRussians) offenbar bewusst das tatsächliche Ausmaß von Übergriffen oder Diskriminierungen zum Nachteil russischstämmiger Menschen in Deutschland und greift dabei auf nicht überprüfbare Behauptungen zurück. Dieses Agieren kann dazu beitragen, die ohnehin emotional aufgeladene gesellschaftliche Situation, insbesondere innerhalb der russischen und ukrainischen Communitys in Deutschland, zusätzlich anzuheizen. Aktionen wie der prorussische Autokorso durch Berlin sowie Berichte und Bilder von mutmaßlichen Kriegsverbrechen wie aktuell aus dem Kiewer Vorort Butscha, wo russische Truppen gezielt Zivilisten erschossen haben sollen, könnten für zusätzliche Spannungen sorgen.”
Überhöht, offenbar bewusst … Stimmung anheizen … für Spannung sorgen … vor meinem inneren Auge steht da sofort eine bluttriefende Bild-Schlagzeile, mindestens. Große Buchstaben, die über den Bildschirm flackern mit Achtung! Wirst du diskriminiert? Melde Dich hier! SOS@russische-botschaft.de ! Oder ein Laufband, über dem dann, natürlich auf der Hauptseite, die jeweils aktuellste Meldung steht, in der Art (das ist jetzt nur meine Fantasie):
“Sonia S. ist verzweifelt. Tränenüberströmt. Sie hat seit drei Nächten nicht geschlafen. Ihr unschuldiger Sohn wurde von seinen Klassenkameraden bespuckt, weil er Russe ist. Auch die Lehrerin sah keinen Grund, einzugreifen. Wie üblich lässt sie das Kind im Stich, weil er Russe ist. Sonia wagte es nicht, sich bei der Lehrerin zu beschweren. Wir halfen. Jetzt verbringt diese einen erfrischenden Urlaub in klimatisch geforderten Regionen.”
Ist doch so. Mindestens Bild, vielleicht unterlegt mit Musik von Katschturian und am Ende Sibirien, oder? Sind ja schließlich Russen …
Nein, die Kollegen vom Handelsblatt haben definitiv nicht auf die Webseite der russischen Botschaft geschaut, um zu überprüfen, in welchem Verhältnis die Aussage des Verfassungsschutzes zur Wirklichkeit steht. Brav. So geht Vertrauen, Jungs. Immer schön glauben, was in der Pressemitteilung steht. Oder im Sicherheitshinweis. Eines hat euch das eindeutig erspart – die etwas mühsame Suche nach dem Gegenstand der Empörung. Da sind nämlich keine flammend roten Lettern auf der Hauptseite. Nicht einmal ein Hinweis. Die Mailadresse habe ich immer noch nicht gefunden, obwohl ich zumindest dank Handelsblatt, Verfassungsschutz und mehrerer wutschäumender deutscher Politiker davon ausgehe, dass es sie tatsächlich gibt.
Und wenn man gerne die Stimmung angeheizt bekommen will oder nach Spannung sucht, muss man auf die Unterseite “Aktuelles” gehen, und dann links, im Menü, bis auf Position 13. Da stehen sie dann, die Meldungen, wenn man auf #StopHatingRussians klickt. Mal ein Beispiel:
“In Berlin wurde das Auto von Alexander K. mit dem russischen Kennzeichen beschädigt.”
Wow. Jetzt bin ich aber emotional völlig überladen und muss meine Empörung sofort irgendwo loswerden. So ein massiver, gezielter Versuch, die Gesellschaft zu spalten!
Das ist es, was am Ausgangspunkt unserer stillen Post steht. Eine unschuldige Liste, die einfach anonymisiert die Fälle aufzählt, die bei der Botschaft gemeldet werden. Ohne Bewertung, geschweige denn Überbewertung. Eine Mailadresse, die noch deutlich schwerer zu finden ist als die Liste, und eine Liste. Und dafür Reaktionen, die klingen, als bräche morgen in Deutschland der Bürgerkrieg aus, wegen des Hashtags #StopHatingRussians.
Die russische Botschaft hat übrigens auf die Vorwürfe reagiert, indem sie darauf hingewiesen hat, dass es schlicht die Aufgabe einer Botschaft sei, sich um ihre Landsleute zu kümmern. Wo sie recht hat, hat sie recht. Ich hätte wenigstens einen Link auf die Hauptseite gesetzt und damit angefangen, ab und zu mal einen Betroffenen zu fragen, ob er oder sie bereit sei, das weitergehend zu veröffentlichen, und dann, sagen wir einmal in der Woche, eine entsprechende Pressemitteilung verschickt. Wobei, stimmt schon, kann man sich sparen, sind ja nur Russen. Wenn sie sich als Syrer verkleiden vielleicht?
Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat die Nummer schon gewaltig aufgeblasen. Aber die Politiker, die dann dem Handelsblatt gegenüber erklären, dass man deswegen Botschaftsmitarbeiter nach Hause schicken könnte – ist das irre oder ist das irre? Hat einer von denen auch nur einen Blick auf das geworfen, wovon wir reden?
Wenigstens hat Matthias Bröckers vor kurzem einen netten Witz zitiert. Der tröstet ein wenig, wenn man den Gegenstand gar so extrem illustriert bekommt:
Treffen sich zwei sowjetische Soldaten im Mai ’45 vor dem Reichstag. Sagt der eine zum anderen: Genosse, warum schaust du so traurig? Der andere antwortet: Es ist so schlimm, dass wir den Informationskrieg gegen Goebbels verloren haben …
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