Von Rachel Marsden
Laut einer aktuellen Umfrage des Europäischen Rates für Auslandsbeziehungen wünschen sich EU-Bürger mehr Unabhängigkeit von den USA. Das Interesse der Europäer an mehr Neutralität gegenüber China würde dazu beitragen, diese Unabhängigkeit zu erreichen, ihre Haltung gegenüber Russland jedoch sicherlich nicht.
Knapp die Hälfte der 16.168 befragten Bürger aus elf EU-Mitgliedstaaten halten die Sicherheitsbeziehungen der EU zu Washington für vorteilhaft, und die überwiegende Mehrheit sieht die USA als Verbündete oder strategische Partner. Aber satte 74 Prozent der Befragten – gegenüber 66 Prozent im November 2020 – sagten, dass sich die Europäische Union nicht auf die USA verlassen könne und eigene Verteidigungsfähigkeiten benötigen würde.
Im Grunde ist die EU also eine Art Student, der erkannt hat, dass es an der Zeit ist, erwachsen zu werden und aus dem Mansardenzimmer von Onkel Sam auszuziehen, auch wenn es bequem und einfach ist, unter seinem Dach zu leben. Und in diesem Fall ist dieses Dach der amerikanische Atomwaffenschirm.
Europäer schätzen die Vorzüge der Sicherheit, wollen aber auch ihre Freiheit und Autonomie. Irgendwann wird jedoch klar, dass man, wenn man Unabhängigkeit will, etwas Geld braucht. Mit anderen Worten: Genug Geld aus einer Vielzahl von Quellen, um jedem, der versucht, die Freiheit und die Autonomie der EU zu bedrohen, den Finger zu zeigen. Aber zum jetzigen Zeitpunkt kann es sich die EU einfach nicht leisten, Onkel Sam den Finger zu zeigen. Die Abhängigkeit der EU von den USA ist durch den Abbruch der Wirtschafts- und Energiebeziehungen zu Russland nur noch größer geworden. Die EU begann zu erkennen, wie wenig Einfluss Brüssel auf Washington hat, nachdem man um günstigere Preise für amerikanisches Flüssigerdgas regelrecht betteln musste, von dem man nach der Abkopplung von russischen Energielieferungen übermäßig abhängig geworden ist.
Als die Regierung von Joe Biden dann noch einen drauf setzte, indem sie Europas grüne Industrie im Rahmen des protektionistischen “Gesetz zur Reduktion der Inflation” vom US-Markt ausschloss, war Brüssel erneut dem Wohlwollen Washingtons ausgeliefert. Zum Leidwesen der EU ist Washington in wirtschaftlicher Hinsicht völlig pragmatisch. Und es sieht so aus, als ob die Mehrheit der EU-Bürger wollen, dass ihre Staats- und Regierungschefs sich auch so verhalten – angefangen damit, dass sie sich weigern sollten, im Reigen der Regimewechsel, die regelmäßig von den USA angezettelt werden, mitzumachen, nachdem der Kompass in Richtung Peking eingestellt wurde. Die Umfrage ergab zudem, dass 62 Prozent der Befragten wollen, dass die EU in jedem Konflikt zwischen den USA und China neutral bleibt. Mit anderen Worten: Sie sehen es genauso wie der französische Präsident Emmanuel Macron.
“Die Frage, die wir Europäer beantworten müssen: Liegt es in unserem Interesse, in Bezug auf Taiwan zu eskalieren? Nein. Das Schlimmste wäre zu glauben, dass wir Europäer bei diesem Thema Mitläufer werden und uns an der US-Agenda und einer chinesischen Überreaktion orientieren müssen”, sagte Macron bereits im April und reagierte damit auf die Kritik sowohl aus den USA als auch innerhalb der EU.
Macron hat erkannt, dass man keine wirklich unabhängigen militärischen und außenpolitischen Positionen einnehmen kann, wenn man nicht auf eigenen Beinen steht. Zu dieser Einsicht gelangte Macron nach seinem Besuch in China im vergangenen April, bei dem er einige wichtige Wirtschaftsabkommen für Frankreich abschließen konnte – zu einer Zeit, in der er dringend ein paar Nägel im Brett brauchte, da sein Land unter hoher Inflation und steigenden Energiepreisen leidet. Und so sprach Macron plötzlich von der Notwendigkeit einer “strategischen Autonomie” gegenüber den USA.
Es ist erstaunlich, wie einige große Geschäftsabschlüsse, darunter der Verkauf von 160 neuen Verkehrsflugzeugen von Airbus und eine Verdoppelung der Airbus-Produktion in China, Macron dazu ermutigt haben, für mehr Unabhängigkeit von Washington zu plädieren. Es ist wirklich erstaunlich, was großes Geld bewirken kann. Genau wie ein Student, der einen Job annimmt, aus dem Elternhaus auszieht, sein eigenes Geld verdient und nun plötzlich den Mut findet, Mama und Papa zu sagen, was er wirklich denkt und will. Und Macron strebt nach mehr Unabhängigkeit, die jedoch nur mit viel Geld erkauft werden kann.
Macrons Position gegenüber der Notwendigkeit einer Unabhängigkeit von den USA und höheren Neutralität gegenüber China kollidiert mit der anderer tugendhafter Staatsoberhäupter der Union, welche routinemäßig ihre Ideologie über allgemeinen Pragmatismus stellen. Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, hat sich der vom US-Außenministerium vertretenen Idee einer “Risikoreduzierung” gegenüber China angeschlossen. Dies scheint das neue Schlagwort zu sein, mit dem man das etwas harschere Motto der “Entkopplung” ersetzen will, welche angesichts der massiven Entwicklung Chinas und seinen verflochtenen Wirtschaftsbeziehungen mit dem Westen nicht ohne Weiteres machbar wäre. Aber statt die Gelegenheit zu nutzen, sich mal auf die Zunge zu beißen, propagiert sie munter die Notwendigkeit, “Risiken zu reduzieren”.
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock und EU-Chefdiplomat Josep Borrell schlossen sich dieser Meinung an. Beide nannten China einen “Partner, Konkurrenten und systemischen Rivalen”, während Baerbock hinzufügte, dass der Aspekt der Rivalität zunehme. In Wirklichkeit bedeutet dies, dass die EU öffentlich für das Konzept der “Risikoreduzierung”, aber nicht für die “Entkopplung” wirbt, während man stillschweigend mit China so weitermacht wie bisher, in der Hoffnung, dass sich China durch den neuen Begriff nicht allzu sehr beleidigt fühlt. Ansonsten wird man seinen Worten Taten folgen lassen und dem eigenen, stark angeschlagenen Wirtschaftsmotor, der gerade in die Rezessionszone gerutscht ist, einen Knüppel zwischen die Beine werfen.
Als die EU dem Beispiel Washingtons folgte und auf den anti-russischen Zug aufsprang, wurde sie wirtschaftlich weit zurückgeworfen, allerdings zu weitaus höheren Kosten für sich selbst als für die USA, die am Ende der große Nutznießer der zunehmenden wirtschaftlichen Abhängigkeit der EU wurden. Eine Mehrheit von 64 Prozent der befragten Europäer, die während des laufenden Ukraine-Konflikts ununterbrochen mit der antirussischen Propaganda des Establishments bombardiert wurde, betrachtet nun Russland als Rivalen oder Gegner der EU, die aber mit Russland nicht in direktem Konflikt steht – dies entspricht einer Verdoppelung des Umfragewertes gegenüber 2021. Doch es war die wirtschaftliche Zusammenarbeit der EU mit Russland, die dazu beigetragen hatte, jene Art von Unabhängigkeit von den USA zu sichern, nach der sich dieselben Befragten jetzt sehnen. Doch während sie nun behaupten, nicht bereit dafür zu sein, den gleichen Weg der wirtschaftlichen Distanzierung gegenüber China einzuschlagen, ist jedoch fraglich, ob sie nicht erneut ihre Meinung ändern werden, wenn die anti-chinesische Propaganda hochgefahren und Peking als Bedrohung für Europa dargestellt wird – so wie im Fall von Russland.
Auf der einen Seite muss die EU herausfinden, wie sie ein Gleichgewicht schaffen kann, zwischen ihrem Hang, alles und jeden über die hehren EU-Werte belehren zu wollen – die sie selbst regelmäßig verletzt – und andererseits der Diversifizierung jener Kooperationen, die letztendlich zu größerer Unabhängigkeit und Autonomie führt. In der Zwischenzeit müssen die Europäer einen Weg einschlagen und selbst entscheiden, ob sie wirklich die Art von Autonomie wollen, die nur mit Geld gekauft werden kann, oder ob sie bereit sind, ihre eigenen Interessen jedes Mal zu opfern, wenn sie von ihren Staatsoberhäuptern aus ideologischen Gründen dazu aufgefordert werden.
Aus dem Englischen
Rachel Marsden ist eine Kolumnistin, politische Strategin und Moderatorin eines unabhängig produzierten französischsprachigen Programms, das auf Sputnik France ausgestrahlt wird. Ihre Website finden man unter rachelmarsden.com
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