Von Dagmar Henn
Mit einem großen Auftritt haben am Montag in Belgien die Staatschefs der EU-Nordseeanleger erklärt, die Nordsee zu einem gigantischen Kraftwerk zu machen. So viel Strom wie 300 Atomkraftwerke, lautet die Schlagzeile, die sie mitnahmen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sprach davon, die “starke europäische Industrie” zu schützen, und Bundeskanzler Olaf Scholz redet vom “ganz, ganz großen Potenzial”. Aber die Versprechungen sind zweifelhaft.
Augenblicklich produziert Deutschland etwa acht Gigawatt Strom durch Windkraftanlagen in der Nordsee. Bis 2030 sollen es EU-weit 150 Gigawatt, bis 2050 sollen es 300 Gigawatt werden. Der deutsche Anteil davon soll bis 2030 auf 15 Gigawatt steigen, bis 2045 auf 66 Gigawatt (der gegenwärtige Stromverbrauch in Deutschland liegt in Spitzenzeiten bei 75 Gigawatt). Wobei das Grundcharakteristikum des Windstroms natürlich erhalten bleibt – kein Wind, kein Strom.
Um die dafür erforderliche Menge an Windrädern aufstellen zu können, sollen 3.500 Quadratkilometer Fläche in der Nordsee reserviert werden. Zum Vergleich: Die Gesamtfläche des Saarlands beträgt 2.500 Quadratkilometer. Es wird allerdings nicht weiter ausgeführt, ob diese Fläche bereits den Flächenverlust umfasst, für den die bis 2020 installierten Offshore-Windräder sorgen werden.
Selbst wenn sich dieser Plan realisieren lässt und wirtschaftlich ist (woran starke Zweifel angebracht sind), stehen die Windräder, die bis 2030 errichtet werden, 2050 vermutlich bereits nicht mehr zur Verfügung. Denn eine der ersten Erfahrungen, die man mit solchen Anlagen machen musste, lautet: Die Korrosion durch die Meeresluft sorgt dafür, dass die Anlagen keine 25 Jahre halten. Nun gibt es zwar unterschiedliche Methoden, um die Monster aus Beton und Stahl vor Korrosion zu schützen, aber es liegen keinerlei Erfahrungen vor, welche Langzeitauswirkungen das auf das Meeresleben hat. Aber es ist immerhin bereits klar, dass sogenannte Opferanoden – unter Strom stehende Metallstücke, die eine Korrosion des Metallmantels um den Beton verhindern sollen – zu einem Eintrag auch von Schwermetallen in den Meeresboden führen.
Die bisher vorhandenen Anlagen sind allerdings relativ klein, verglichen mit dem, was angestrebt wird. Dennoch war es nie einfach, einen Standplatz zu finden – große Teile der deutschen alleinigen Wirtschaftszone in der Nordsee stehen entweder unter Naturschutz oder dienen der Schifffahrt. Der einzige Vorschlag, das Problem zu lösen, lautet: die Gesetze über die Genehmigung zu ändern.
Die wirtschaftliche Bilanz der Anlagen ist, gelinde gesagt, schwierig. Ohne öffentliche Förderung rechnen sie sich nicht; das wird sich auch bei der Errichtung größerer Mengen nicht ändern, schließlich werden mit Stahl und Beton zwei Baumaterialien benötigt, die massiv von den höheren Energiekosten betroffen sind. Anders formuliert, gäbe es das günstige russische Erdgas noch, das die EU per Sanktion exorziert hat, wären die Chancen für solche Anlagen besser, sich zu amortisieren. So ist das Risiko hoch, dass es ein Zuschussgeschäft bleibt.
Wobei man keinesfalls vergessen sollte, dass nach abermals 25 Jahren erneut eine Fläche derselben Größe benötigt wird, da man die Anlagen im Meer ebenso wenig spurlos wieder entfernen kann wie jene an Land. Spätestens im Jahr 2070 wäre es also dann eine Gesamtfläche von 7.000 Quadratkilometern, vorausgesetzt natürlich, man will weiter an diesen Fantasien festhalten.
An Land ist inzwischen längst klar, dass auch Windräder keine folgenlose Technologie sind; dass ihre Überreste, der Betonsockel und die Flügel aus Verbundmaterial, alles andere als umweltfreundlich sind, und dass die Vogelpopulation nachweislich unter ihrem Betrieb leidet. Andere Fragen, wie Infraschall und Einfluss aufs Mikroklima, sind noch lange nicht beantwortet. Im Meer ist der durch die bis zum Boden fortgesetzte Vibration ausgelöste Schall unter Umständen weit folgenreicher als an Land, weil er, ähnlich wie die Geräusche von U-Boot-Motoren, die Kommunikation der Meeressäuger beeinträchtigen kann.
Die Frage des Mikroklimas wird bei den geplanten gigantischen Flächen weit relevanter als bisher. Das Problem: Die Windenergie, die durch die Rotoren “entnommen” wird, ist weg; große Flächen mit vielen Windrädern verändern tatsächlich Wind und Feuchtigkeitseintrag in den Gebieten dahinter.
Und eines steht auf jeden Fall fest: Eine verlässliche Grundversorgung wird mit Windstrom nie funktionieren; das Problem der Dunkelflaute bleibt erhalten. Daran wird auch der Zwang, “intelligente” Stromzähler einzubauen, die es ermöglichen, die Versorgung einfach von außen abzuschalten, würde wenig ändern. Der beliebteste Vorschlag der Befürworter der schwankenden Stromversorgung, dann eben in der Nacht die Waschmaschine laufen zu lassen, wenn der Strom ohnehin günstiger ist, übersieht, dass ein solches Verhalten sowohl mit den Hausordnungen, unter denen die meisten Mieter leben, als auch mit den Bedingungen der Haftpflichtverträge kollidiert.
Aber wer will schon so viel Realismus. Hauptsache, die dicken Stromkabel, die von den Windkraftanlagen zum Land verlegt werden müssen, werden von der NATO beschützt, wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hervorhob. Da fühlt man sich nach der Erfahrung mit Nord Stream ganz besonders geborgen.
Wobei die Nordsee weit mehr gefährliche Überraschungen birgt als die Ostsee, da die britischen und US-amerikanischen Bomber im Zweiten Weltkrieg die Angewohnheit hatten, Reste, die sie nicht über deutschen Städten abwerfen konnten, in die Nordsee fallen zu lassen. Immerhin, die Tarngeschichte für den nächsten US-Anschlag auf deutsche Infrastruktur läge damit bereits fertig in der Schublade.
Übrigens, auch das Problem der Nord-Süd-Verbindung ist im deutschen Stromnetz noch nicht gelöst. Das wird mit Sicherheit ebenfalls dauern, wenn die Trasse überhaupt irgendwo durchsetzbar ist, und auf ein weiteres Problem stoßen, die Kupferpreise. Muss man dann noch das Stichwort “seltene Erden” hinzufügen, die beispielsweise für die Opferanoden benötigt werden? Wie viel davon überhaupt noch zugänglich ist, wenn nun der Handelskrieg gegen Russland durch einen weiteren gegen China ergänzt wird, steht in den Sternen.
Aber egal. Hauptsache, wir tun so, als wäre alles in bester Ordnung, und man könne voller Zuversicht in eine Zukunft mit ganz vielen Windrädern, Solarzellen, Wärmepumpen und Elektroautos blicken. Denn mit den Windrädern als Teil des Klimaglaubens ist es wie mit anderen Religionen auch: Man muss nur glauben wollen. Das sorgt zwar nicht dafür, dass Wunder geschehen, aber solange man so tut, als geschähen sie, fühlt man sich viel, viel besser.
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