Eine Analyse von Alexander Männer
Die Situation innerhalb der Bevölkerung der Ukraine gilt nicht zuletzt wegen des Krieges mit Russland und dem Niedergang der ukrainischen Wirtschaft als besorgniserregend. Allein seit Februar 2022 sollen nach neuesten Schätzungen mehr als 200.000 Soldaten bei Kampfhandlungen getötet und noch mehr verwundet worden sein. Mehr als 13 Millionen Ukrainer sollen bis heute ihr Land verlassen haben – etwa fünf Millionen Richtung Russland und acht Millionen in Richtung der Europäischen Union.
Dabei wollen die meisten derjenigen, die in der EU bereits einen Asylantrag gestellt haben, womöglich gar nicht zurückkehren und stattdessen lieber in Deutschland, Frankreich oder den anderen EU-Ländern Fuß fassen. Dass Millionen ukrainische Bürger nämlich lieber im Ausland leben wollen, als in ihr Heimatland zurückzukehren, ist kein Geheimnis. Denn spätestens seit dem “Euromaidan” 2014 ist das wahre Ziel der sogenannten “Europäischen Integration” für einen Großteil der ukrainischen Bevölkerung, irgendwie in die EU zu gelangen und dort zu bleiben.
In Bezug auf die Demografie sind der Flüchtlingsstrom ins Ausland sowie die Kriegsverluste allerdings nur ein Teil einer bereits seit langer Zeit bestehenden und äußerst negativen demografischen Entwicklung der Ukraine, wegen der das Land unlängst vor dem Abgrund steht.
So ist wichtig zu betonen, dass die ukrainische Bevölkerung in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg ein beispielloses Wachstum durchlebt und mit 52 Millionen Einwohnern 1993 – also gut ein Jahr nach dem Zerfall der Sowjetunion – ihre Höchstzahl erreicht hatte, bevor im Zuge der Unabhängigkeit der Ukraine praktisch ein rapider Rückgang einsetzte. Laut der bisher letzten ukrainischen Volkszählung, die 2020 elektronisch durchgeführt wurde, gab es in der ehemaligen Sowjetrepublik vor drei Jahren lediglich 37 Millionen Einwohner – das ist ein Minus von fast 30 Prozent. Inzwischen soll die Ukraine nach Schätzungen sogar weniger als 35 Millionen Einwohner zählen. Zumindest ist das aufgrund der hohen Sterblichkeitsrate, der niedrigen Geburtenrate, der Emigration und der ukrainischen Kriegsverluste eine relativ optimistische Schätzung. Nimmt man nun aber noch die Flüchtlingszahlen, dann hat sich die in der Ukraine befindliche Bevölkerung im Vergleich zum Niveau der späten UdSSR faktisch halbiert.
Um diese Entwicklung umzukehren, sollte nicht nur der Krieg beendet oder die Menschen aus dem Ausland zurückgeholt werden, sondern die Bevölkerungszahl muss wieder wachsen. Es wird angenommen, dass für eine natürliche Zunahme eine Fertilitätsrate von mehr als drei Kindern pro Frau notwendig ist. Die aktuelle Geburtenziffer in der Ukraine beträgt geschätzt nur rund 1,3 Kinder je Frau und gehört damit weltweit zu den niedrigsten. Diesbezüglich verheißt die Tendenz keine guten Aussichten, wobei sogar befürchtet wird, dass die Zahl der Geburten künftig abnehmen könnte.
Eine kommende Katastrophe zeigt sich zudem vor allem in der Altersstruktur der Bevölkerung, wo der Anteil der jüngeren Altersgruppen in der Vergangenheit beständig abgenommen hat und bei den 20- bis 25-Jährigen sowie den 25- bis 30-Jährigen mittlerweile erschreckend deutlich unter dem Niveau der anderen Altersgruppen liegt. Der Anteil der erstgenannten Altersgruppe etwa fiel seit 2021 sogar um mehr als die Hälfte, was vermutlich primär auf die Verluste im Krieg und die Flüchtlinge zurückzuführen ist.
Laut Angaben des Statistikportals Population Pyramid macht der männliche Anteil der 20- bis 30-jährigen Ukrainer 3,2 Prozent der Bevölkerung aus, der weibliche Anteil 2,6 Prozent. Das sind insgesamt gerade einmal 5,8 Prozent und damit zu wenig, um einen positiven demografischen Wandel herbeizuführen.
Das ganze Ausmaß dieses Defizits zeigt sich besonders anhand eines Vergleichs der Ukraine mit etwa jenen europäischen Ländern, wo die demografische Situation ebenfalls als relativ schwach gilt. Zum Beispiel mit Deutschland und Russland, in denen der Anteil der besagten Altersgruppen an der Gesamtbevölkerung mit insgesamt elf beziehungsweise 10,2 Prozent deutlich höher ist als in der Ukraine. Im Detail ist das sogar noch alarmierender: Verglichen mit Deutschland oder Russland ist der Anteil der 20- bis 25-jährigen Frauen in der Ukraine um das 2,5-Fache niedriger. Wer im Krisenland künftig also für einen Anstieg der Geburtenrate sorgen soll, ist mehr als fraglich.
Dieses Problem wird nicht nur die demografische Entwicklung noch weiter verschlimmern, sondern auch aus ökonomischer Sicht schwerwiegende Folgen für die Ukraine haben. Denn ein Rückgang innerhalb der jüngeren Altersgruppen hat zuallererst eine direkte Auswirkung auf die Zahl der Erwerbsfähigen respektive Erwerbstätigen und damit auf die Volkswirtschaft in einem Land.
Wie die russische Zeitung Wsgljad unter Verweis auf eine ukrainische Quelle schreibt, ist die erwerbsfähige Bevölkerung der Ukraine seit Beginn des Krieges um mehr als fünf Millionen Menschen beziehungsweise fast 30 Prozent zurückgegangen. Allerdings ist nicht ersichtlich, ob die besagte Quelle die ukrainischen Flüchtlinge in der EU umfasst, oder ob sie auch diejenigen Ukrainer mit einbezieht, die ihr Land in Richtung Russland verlassen haben. Immerhin zählt die russische Föderale Migrationsbehörde heute, wie eingangs erwähnt, etwa fünf Millionen Flüchtlinge aus dem Nachbarland, von denen mehr als ein Drittel erwerbsfähig sein könnte.
So oder so fehlen der Ukraine aufgrund des Krieges und des demografischen Wandels schon heute Millionen von einfachen Bürgern, die bereit wären, in den Wiederaufbau und damit in die Zukunft des Landes zu investieren. Nicht zu vergessen ist auch, dass ein Großteil der Geflüchteten Kinder sind, ohne die die Zukunft der Ukraine noch schwieriger scheint.
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