Von Sachar Prilepin
In der Stadt Welikije Luki, auf dem Gelände einer dortigen Fabrik, wurde ein Denkmal für Stalin priesterlich eingeweiht.
Und ich werde diese Gelegenheit nutzen, um Folgendes zu sagen:
Natürlich bin ich dafür, dieses Denkmal zu errichten!
Außerdem bin ich dafür, das Dserschinski-Denkmal auf den Lubjanka-Platz in Moskau zurückzubringen. Wenn sein Porträt doch in jedem zweiten Büro des FSB-Gebäudes, also in ebendieser Lubjanka hängt, wen wollen wir dann noch betrügen?
Andererseits aber werde ich mich sicherlich nicht gegen die Errichtung von Denkmälern für Denikin, Kornilow, Kaledin, Kappel, Pepeljajew oder, sagen wir, Machno aussprechen – und werde dies sogar unterstützen.
Natürlich wird auch jede Form des Gedenkens an Zar Nikolaus II. und seine Familie akzeptiert – mit Ausnahme solcher, die offen zu bürgerlichen Unruhen aufstachelt.
Sowohl Denkmäler für russische Kaiser und Zaren als auch neue – aber bitte dann auch originelle und künstlerisch wertvolle, immerhin ist das 21. Jahrhundert angebrochen! – Denkmäler für Lenin sind sicherlich willkommen.
Kann sich so etwas miteinander beißen, in Widerspruch miteinander geraten? Ja, aber nur bei Menschen, die sich der Größe und Komplexität des historischen Prozesses nicht bewusst sind.
Im modernen Russland stehen gleichzeitig (und das in durchaus friedlicher Koexistenz) Denkmäler für den Zaren Alexei Michailowitsch den Sanftmütigsten und Stepan Timofejewitsch Rasin, sowie für Nikon und Awwakum (zur Erinnerung: Mit der Figur des Awwakum ist die des Zaren Alexei Michailowitsch in mancher Hinsicht noch unversöhnlicher als mit der Rasins), Denkmäler für Peter den Großen und Kondrati Bulawin oder, sagen wir, für Iwan den Schrecklichen und Metropolit Philipp (in der Welt Fjodor Kolytschew), der während der Herrschaft des Schrecklichen abgesetzt und von seinen Gefährten bestialisch erdrosselt wurde.
Die Liste ließe sich fortsetzen, aber eigentlich ist auch so schon alles klar.
Diejenigen, die dafür sind, die Geschichte in ihrer komplexen Fülle zu akzeptieren, sind damit für die Überwindung von Konflikten in der Zivilgesellschaft, für die Überwindung von Bürgerkrieg.
Diejenigen aber, die nur den “Eigenen” Denkmäler errichten und die Denkmäler für die “Fremden” vernichten wollen, arbeiten einer neuen Runde des Bürgerkrieges zu.
In Russland ist nur die Erinnerung an die Judasfiguren der russischen Geschichte – Masepa, Petljura, Bandera, Wlassow… – inakzeptabel.
Hier wird zwingend jemand sicher ausrufen, außer sich vor Streitlust:
“Und ich halte Lenin (Denikin), Dserschinski (Pepeljajew) und ihresgleichen für Verräter und Blutsauger! Und ganz besonders Peter (oder Rasin) und Iwan den Schrecklichen…”
Naja, dann halt eben. Aber halt auch die Füße still. Denn Geschichte wird leider nicht mit Blut gemessen.
Woran wird sie gemessen?
An der beständigen und ungetrübten nationalen Erinnerung.
Worin drückt die sich aus?
In Volksliedern, zum Beispiel. Und in der nationalen Kultur im Allgemeinen.
Sind die Bilder von Alexei Michailowitsch, Peter, Rasin, Bulawin, Nikon und Awwakum Teil des nationalen Bewusstseins?
Ja. Das beweist der riesige Korpus an Liedern, Legenden, Erzählungen und bedeutenden literarischen Texten und Musikwerken, die ihnen gewidmet sind.
Mehr oder weniger gilt das auch für Nikolaus II., Lenin, Denikin, Dserschinski und Pepeljajew.
Alle diese Namen sind Teil des nationalen Kodex. Niemand kann die dichterischen Werke Jessenins und Majakowskis über Lenin einfach canceln, solange die russische Sprache existiert – ebenso wenig wie die Texte von Marina Zwetajewa über die Tragödie der Weißen Armee.
Keinerlei künstlerischen Wert haben dafür aber unsere heutigen schreiend lauten Streitigkeiten zu diesen Themen, meistens. Zum Glück wird die Zeit sie hinforttragen, wie ein ordentlicher Windzug beim Lüften abgestandenen Kabinettmief hinfortträgt.
Wir werden dies alles unweigerlich erkennen müssen.
Und es scheint, dass die neuen Gebiete Russlands, in denen “weiß” und “rot” so lebhaft miteinander benachbart sind, uns eine gute Lehre sein können.
Mehr zum Thema – Faktencheck “Holodomor”, Teil 3: Gegen wen richtet sich diese Verleumdung wirklich?
Übersetzt aus dem Russischen.
Sachar Prilepin ist ein russischer Schriftsteller und Journalist, der in den 1990er Jahren im Krieg in Tschetschenien gekämpft hat. Er kämpfte später als stellvertretender Kommandeur eines Freiwilligenbataillons der Volksmiliz der Volksrepublik Donezk in der Ukraine.