Von Timofei W. Bordatschow
In Russland beruft man sich sehr gerne auf den Begriff der “globalen Mehrheit”. Das sind jene Staaten der Welt, die ihre Entwicklung zwar mit den Haupttrends der Globalisierung verknüpfen, aber in der Lage sind, ihre eigenen Ansichten innerhalb der internationalen Ordnung zu äußern. Bisher wurde in Russland dieser Gedanke eher zurückhaltend geäußert. Dies erklärt sich aus Russlands Teilnahme an einem Beziehungssystem, in dem die westlichen Länder nicht nur eine führende Rolle spielten, sondern bis zu einem gewissen Punkt auch mit relativ optimalen Lösungen für jeden aufwarten konnten. Die jüngsten Ereignisse – insbesondere die Krise im Nahen Osten – könnten jedoch bei den meisten Ländern der Welt ein neues Kapitel aufschlagen, in der Wahrnehmung der US-amerikanischen und westeuropäischen Politik. Dies könnte wiederum Bedingungen schaffen, die eine Rückkehr zur bisherigen Weltordnung unmöglich machen.
Israels Konfrontationspolitik stellt keine direkte Bedrohung für die derzeitigen Großmächte Russland, USA oder China dar. Und diese Großmächte werden nach den Ereignissen dieses Herbstes auch nicht über die Zukunft des Nahen Ostens in Streit geraten. Es wäre jedoch kurzsichtig, die schädlichen Auswirkungen bestimmter Merkmale der vom Westen gewählten Positionen, auf die Glaubwürdigkeit des Westens in den Augen der Weltgemeinschaft zu unterschätzen. Damit werden die Bedingungen, unter denen die internationale Ordnung der Zukunft entstehen wird, immer komplexer.
Versuchen wir zusammenzufassen, wie die Länder der globalen Mehrheit, insbesondere der islamische Teil davon, das Vorgehen des Westens und vor allem die Folgen all dessen für die internationale Politik einschätzen könnten.
Als Ergebnis jüngster Diskussionen mit Kollegen aus den Ländern der globalen Mehrheit, lässt sich sagen, dass die prägnanteste Charakterisierung des westlichen Verhaltens eine einfache Aussage bildet: Der Westen zerstört seine eigenen bisherigen Errungenschaften. Die Argumente für diese Einschätzung lauten etwa: In den vergangenen Tagen hat eine Welle von Demonstrationen zur Unterstützung der in Gaza belagerten Palästinenser die Welt erfasst. Während westliche Staats- und Regierungschefs mantraartig immer wieder pauschal ihre uneingeschränkte Unterstützung und Bereitschaft bekunden, alles für Israel zu tun, haben ihre jeweiligen Bürger, ganz zu schweigen von der Bevölkerung muslimischer Länder, gegen eine einseitige gewaltsame Lösung des Konflikts protestiert. Diese friedlichen und bisher überschaubaren Aktionen können durchaus als Vorboten komplexerer Prozesse betrachtet werden, die sich angesichts der kurzsichtigen Politik des Weißen Hauses und seiner Unterstützer in Europa abzeichnen.
Das Wichtigste, was unsere Kollegen in den meisten Ländern der Welt beunruhigt, ist, dass mehrere Narrative, die in den vergangenen Jahren praktisch aus dem Bewusstsein verschwunden sind, wieder auf der Tagesordnung stehen: Die USA und die christlichen Länder der Alten Welt sind in erster Linie für das Leid der Muslime und ihre Zerstörung in Kriegen und Konflikten verantwortlich. Die USA und die christlichen Länder der Alten Welt provozieren auch Konfrontationen, die in Entwicklungsländern zu Wirtschaftskrisen, Hunger und Arbeitslosigkeit führen.
Das Aufkommen einer solchen Wahrnehmung des Westens, ist eine völlige Umkehrung der enormen diplomatischen Bemühungen der vergangenen Jahre, die moralische Autorität des Westens zu stärken.
Niemand bestreitet, dass die USA und Westeuropa viel zur Entwicklung der globalen Marktwirtschaft beigetragen haben. Doch wie wir aus den vorliegenden Einschätzungen erkennen können, ruinieren sie nun selbst ihre eigenen Erfolge. Ein großer Teil der Weltbevölkerung ist vom grenzenlosen Zynismus und der Doppelzüngigkeit der politischen Eliten überzeugt, die durch das gepriesene liberale demokratische System an die Spitzen der Macht gespült wurden. Besorgt über die aktuelle Stimmung in der Bevölkerung und darüber, wie diese sich auf ihre eigenen Karriereambitionen auswirken wird, zögern die derzeitigen Herren des Schicksals nicht, die enormen Errungenschaften der vergangenen Jahre beim Aufbau von Vertrauen in den internationalen Beziehungen und beim Interessenausgleich auf globaler Ebene über Bord zu werfen.
Nur wenige Menschen erinnern sich heute noch daran, wie viel Arbeit US-amerikanische und westeuropäische Diplomaten, Regierungen und öffentliche Organisationen, in die Unterstützung verschiedener sozialer Entwicklungsprogramme in islamischen Ländern, in die Schaffung interreligiöser Toleranz, den Schutz der Menschenrechte und in die Förderung der Werte der zivilisierten Welt investiert haben. Das Ergebnis der politischen Manöver der vergangenen Wochen war zumindest eine Zunahme terroristischer Bedrohungen. Ein Zustand extremer Polarisierung und anhaltender Radikalisierung der Ansichten der Bürger aus religiösen Gründen dürfte dann zur Normalität werden.
Zukünftig besteht auch die Möglichkeit einer direkten Beteiligung des Westens an einem militärischen Konflikt im Nahen Osten, der für alle Beteiligten sehr blutig werden könnte. Ich möchte darauf hinweisen, dass man sich in Russland der Gefahren einer möglichen neuen Spaltung viel weniger bewusst ist, als bei den Kollegen, die in islamischen Ländern leben und arbeiten und die besonders empfindlich auf die Herausforderungen des religiösen Radikalismus und Extremismus reagieren. Daher stellt die Politik der starken Unterstützung Israels durch die USA und die EU nicht nur eine Bedrohung für den Frieden im Nahen Osten dar, sondern ist auch eine potenzielle Quelle von Spannungen in zahlreichen Ländern.
Eine weitere Sorge der globalen Mehrheit besteht darin, dass die derzeitige angespannte Lage in der Welt es niemandem mehr erlauben wird, militärische Gewalt so ungestraft anzuwenden wie in der jüngeren Vergangenheit, als die Weltmächte die “roten Linien” des jeweils Anderen anerkannten und ihre Gegner respektierten. Die Entwicklung des Konflikts in der Ukraine, begleitet von einem hemmungslosen und offenen Aufrüsten der Kiewer Streitkräfte, beendete eines der erfolgreichsten Kapitel der Menschheitsgeschichte im Hinblick auf den Aufbau eines friedlichen Zusammenlebens zwischen ehemaligen Gegnern.
Die Errungenschaften der jahrzehntelangen Entwicklung von Mechanismen zur Nichtverbreitung von Atomwaffen und zur Umsetzung gemeinsamer Kontrollen und vertrauensbildender Maßnahmen sind nicht nur verloren gegangen, sondern auch unwiederbringlich. Die meisten Staaten verknüpften die Verwirklichung ihrer grundlegenden Entwicklungsziele mit der internationalen Realität, wie sie nach dem Kalten Krieg entstand. All dies erscheint jetzt utopisch. Die Erkenntnisse aus diesen verlorenen Errungenschaften werden bei der Ausbildung neuer Generationen von Diplomaten und Militäroffizieren sicherlich berücksichtigt werden.
Es ist verblüffend, wie führende westliche Medien auf der ganzen Welt selbstzensierend berichten, während Inhalte auf Social-Media streng kontrolliert werden. Staaten, die starker Kritik wegen der Meinungsfreiheit ausgesetzt sind, fällt es manchmal schwer, angemessene Worte zu finden, um über die neuen Standards bei der Berichterstattung im Westen zu sprechen. Die aktuelle kollektive Politik des Westens auf der internationalen Bühne untergräbt zunehmend die einst phänomenalen Erfolge seiner Soft Power. Die Welt der westlichen Lebensweise, die aggressiv nicht-traditionelle Werte propagiert, stößt in immer mehr Ländern auf immer weniger Interesse. Anstatt Begeisterung zu wecken, provoziert die Welt der westlichen Lebensweise zunehmend Ablehnung und Missverständnisse. Auch in Westeuropa verliert der von Washington angetriebene “Mainstream” allmählich an Boden.
Die Welt sieht, dass sich im Westen immer mehr gewöhnliche Menschen fragen, wie sehr sich die Machthaber und Eliten um das Wohlergehen ihrer Bürger kümmern. Der Aufstieg rechter und linker Kräfte und das völlige Scheitern der Parteien der Mitte sprechen Bände über den wachsenden Dissens gegen die aktuelle Lage. Die Erfolge des 20. Jahrhunderts, die durch enorme Opfer, erschöpfenden Wettbewerb und langfristige Planung erkämpft wurden, gerieten in den zwei Jahrzehnten des frühen 21. Jahrhunderts in Vergessenheit. Eine solch verschwenderische Vergeudung von Errungenschaften wird zu einem raschen Bankrott des Westens führen, der ohne Zweifel die meisten Vorteile aus dem bisherigen System gezogen hat.
Eine derartige Verschwendung von Stabilität mitsamt ihren Vorteilen ist sicherlich nicht attraktiv und gefällt den Ländern der globalen Mehrheit nicht. Es ist auch unwahrscheinlich, dass eine Situation, in der der Westen gleichzeitig mit der Bedrohung durch den Terrorismus, der Beteiligung an einem heißen Konflikt im Nahen Osten und der geopolitischen und geoökonomischen Konfrontation mit einer Gruppe einflussreicher Weltmächte konfrontiert ist, die Massen in den Ländern des Westens begeistern wird.
Es ist höchste Zeit, darüber nachzudenken, in welche Richtung sich der Aufbau einer neuen Weltordnung bewegen soll. Es ist das Anliegen der meisten Staaten der Welt, die bestehenden Regeln und Normen nicht zu zerstören, sondern sie als Grundlage internationaler Stabilität zu respektieren. Und Russland wird diese Ansätze noch stärker berücksichtigen müssen als seine Gegenspieler im Westen.
Übersetzt aus dem Englischen.
Timofei W. Bordatschow (geboren 1973) ist ein russischer Politikwissenschaftler und Experte für internationale Beziehungen, Direktor des Zentrums für komplexe europäische und internationale Studien an der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik der HSE Universität in Moskau. Unter anderem ist er Programmdirektor des Internationalen Diskussionsklubs Waldai.
Mehr zum Thema – Welt im Wandel: Der Westen ist einsam