Von Elem Chintsky
Wie sieht das Bild eines kontrollierten freien Falls aus? Sind doch beide Adjektive konträr zueinander ausgerichtet? “Kontrolle” impliziert Vorsätzlichkeit und ein hierfür bewusst eingesetztes, bürokratisches System. Etwas, das “frei” geschieht, trägt die Konnotation von Unvorhersehbarkeit und einer Manipulationsresistenz.
Und doch macht deutsche Sturköpfigkeit diesen oxymoronischen Spagat möglich. Die Zutaten sind neokoloniale Mentalität, die – eine geheuchelte Gleichberechtigung predigend – implizit eine moralische Vormundsposition einnimmt. Gleichzeitig wird ein mikroagressiver Selbsthass gegenüber dem eigenen kulturellen Vermächtnis vermittelt, der zu seiner unterschwelligen Dekonstruktion beiträgt. All das führt zu einem inneren Politikum der gewaltsam zerbrochenen Völkerverständigung im eigenen Land, die von einer extremen, illegalen Einwanderung verursacht wird und zu einem (für die meisten) glaubhaften und spaltenden politischen Diskurs zwischen “rechts und mittelinks-links” führt.
Dabei ist es die AfD-Spitze, die unbiegsame Unterstützung Israels bei all seinen Abenteuern beteuert. Ist nicht aber Israel das Land, welches nachweislich die USA beim Anzetteln und Führen der Irakkriege, der Invasion Syriens und dem Regierungssturz von Gaddafis Libyen beeinflusste? – Alles Ursachen für die großen Migrationswellen hinein in den Garten Europas, die die AfD so vehement verurteilt und von Anbeginn zum Programmpunkt Nummer eins machte und dafür von den linksliberalen NATO-Systemparteien regelmäßig als Nazi-Partei verschrien wird.
Es scheint auch niemand davon wissen zu wollen, dass es geleakte Papiere des israelischen Ministeriums für Nachrichten- und Geheimdienste, Militärnachrichtendienst und Militärgeheimdienst gibt (nach dem 13. Oktober 2023), welche genau beschreiben, wie all die 2,2 Millionen Palästinenser, die nach dem Genozid im Gazastreifen noch am Leben sein sollten, über Ägyptens Sinai-Halbinsel in die EU und nach Kanada verfrachtet werden sollen.
Wie vereinbart man hier die recht dramatischen Interessenkonflikte? Indem diese Widersprüche gar nicht erst in den Mainstream-Diskurs eingespeist werden, da die Empfänger längst allzu aufklärungsresistent geworden sind. Oder wird die “vereinfachte Tagesschau” in solchen Punkten die komplexe Erkenntnis liefern? Sicherlich nicht die klassische Tagesschau. Begonnen hat es also mit dem humpelnden Einmaleins – enden wird es aber mit der bedauerlichen Entsendung derselben Kinder in den Dritten Weltkrieg und der verwirrten Frage, wie es zu all dem überhaupt hatte kommen können.
Tanz der falschen Tugenden – Bildungsferne verschleiert durch Virtue signalling
Warum bremst der Feminismus der dritten Welle sofort wieder ab, sobald die Forderung ertönt, dass Frauen im Kriegsfall – gleichberechtigt – gegen ihren Willen in den Wehrdienst an der Waffe einbezogen werden dürfen? Oder die hoch ideologisierte Grundsatzfrage, wer eine Frau ist und wer ein Mann? Diese binäre biologische Realität ist mittlerweile auch “offiziell” gesprengt worden – besonders bei den Vorreitern der gelebten, vermeintlich inklusiven Gender-Ideologie, den USA selbst. Auch die diesjährigen Olympischen Spiele in Paris sind ein desensibilisierender Testplatz und – neben dem Eurovision Song Contest – eines der effektivsten Overton-Fenster hierfür.
Der Westen kämpfe um die kulturell-nationale, sprachliche und territoriale Integrität der Ukraine, solange der “ewige, rohstoff- und landreiche Russe” das Feindbild sein darf. Wird aber die kulturell-nationale, sprachliche und territoriale Integrität der von der UNO-Feindstaatenklausel weiterhin in Geiselhaft gehaltenen Bundesrepublik gesprochen, ist man in hysterischer Windeseile ein staatlich attestierter Faschist und Nazi.
Apropos deutsche Sprache. Allein beim Nachbarn Österreich gerät das Sprachproblem im Schulsektor außer Kontrolle: “An den Wiener Pflichtschulen sprechen laut einer Auswertung der Statistik Austria sieben von zehn Schülern im Alltag kein Deutsch”, heißt es bei heute.at. Weiter wird der Vorsitzende des Zentralausschusses der Wiener LandeslehrerInnen an Allgemeinen Pflichtschulen Thomas Krebs zitiert, der erläutert, dass “Wiener Pflichtschullehrer vermehrt ein berufliches Umfeld suchen, wo Deutsch die Verkehrssprache in den Schulen ist.
Viele gehen beispielsweise in ein anderes Bundesland. Viele sehen, dass sie nichts mehr bewirken können und verlassen enttäuscht den Beruf.” In Deutschland selbst sieht es nicht anders aus – der Abwärtstrend bei der Bildungsarmut ist seit einer Dekade unbeirrbar. Nimmt man einem Volk etwas so Grundsätzliches wie die eigene Sprache, nimmt man ihm auch die eigene Identität, Geschichte und Fähigkeit zur Selbstbestimmung.
Neuerdings kam die Quittung für die Qualität der Grundschulausbildung aus dem zweitreichsten Bundesland Deutschlands: 60 Prozent der Fünftklässler Baden-Württembergs können nicht dividieren, während 47 Prozent nicht wissen, was eine Subtraktion ist. Wobei 42 Prozent nicht multiplizieren können. Das sind erschreckende Zahlen. Vorher nannte ich das System der deutschen Bürokratie, die letztendlich diese Prozesse der Wissensweitergabe konstruktiv lenken und ihre Resultate maximalisieren soll. Ebendiese ideologisch aufgeladene Bürokratie hat mit den Quarantäne-Jahren der “Corona-Krise” geradezu irreparable Kognitiv-Schäden bei den Kindern verursacht. Sauerstoffmangel durch die Gesichtswindel, durch Ausgangsverbot forcierte Natur- und Bewegungsferne sowie soziale Isolierung haben zu einer Retardierung der geistigen Fähigkeiten geführt.
Es handelt sich um Beeinträchtigungen, die noch langfristige, interdisziplinäre Wellen bei der zukünftigen deutschen Effizienz im akademischen und industriellen Sektor schlagen werden. Die ohnehin bereits von den USA verordnete, deutsche Deindustrialisierung ist da wahrlich kein Vorteil. Schaut man sich die intellektuelle Verfassung der Politikerklasse an – vor allem Außenministerin Baerbock, Insolvenzexperten Habeck, oder Kriegstreiberin Strack-Zimmermann –, so wird ersichtlich, dass dieser Prozess der Schließung gar nicht erst im März 2020 begann.
Die Vermutung wächst, dass ein vorsätzliches Projekt der Volksverdummung auf Hochtouren läuft. Die “vereinfachte Tagesschau” ist ein Testament für die Richtung, in die die weitere Reise geht. Für die Vermittlung des Einmaleins – befriedigend. Für die Aufklärung in Sachen Frieden und Krieg – ungenügend.
In Allan Blooms Werk von 1987, “Die Schließung des amerikanischen Verstandes” (Originaltitel: “The Closing of the American Mind: How Higher Education Has Failed Democracy and Impoverished the Souls of Today’s Students”) argumentiert der Autor, dass der immer stärker institutionalisierte Relativismus im Bildungssektor, der unter dem attraktiven Credo einer liberalisierenden Progressivität und Offenheit – weg von vermeintlich einengenden, intellektuellen und geistigen Traditionen – zu einer schädlichen Beliebigkeit, Disziplinlosigkeit und eben intellektuell-geistigen Schließung der Gesamtgesellschaft führe.
Bloom widmet sich in seiner Kritik am amerikanischen Bildungssystem besonders dem Hochschulsektor, der seiner Meinung nach durch die Liberalisierungsbewegungen um das Jahr 1968 herum aufgeladen wurde. Gibt man sich zu bedenken, dass das Nachkriegseuropa eindringlich von den intellektuellen und kulturellen Trends Nordamerikas beeinflusst wurde, gilt dieses Abhängigkeitsverhältnis auch in dem umerzogenen Nachkriegsdeutschland, wie es die Herren Autoren von “Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik” (1999) penibel und genau rekonstruieren.
Blooms Werk von 1987 ist eigentlich auch eine natürliche Reaktion gewesen auf reaktionäre Bücher wie “Eros und Zivilisation” (1955) von Herbert Marcuse, der entscheidend dazu beitrug, dass Studenten in einer selbstgerechten, jugendlich-maximalistischen, neufreudianisch-sexuellen Überreaktion das akademische Vermächtnis im Westen so stark zum Beben gebracht haben – zutiefst überzeugt, dass sie im Prozess das verhasste Rad neu erfinden würden. Bloom war kulturell eine wertekonservative Gestalt, überzeugt von den moralischen Traditionen von einst, welche eine würdige und zutiefst verantwortungsbewusste Elite tragen und nach außen projizieren würde. Er sah diese aber bereits zum Ausklang des Kalten Krieges als zerfressen an. Zudem befürchtete der Philosoph eine akute Gefahr, dass je mehr sich die Massen verdummen ließen, desto eher würden auch die Eliten samt ihrem Wertekanon und ihrem Verhalten simultan degradieren, was sich zu einer enormen Krise der westlichen Zivilisation entladen würde.
Der Elitenbegriff ist ohnehin strittig: Kann man auf Eliten gänzlich verzichten? Wie kommt eine Elite hervor? Im Offenen oder im Verborgenen? Wie hat eine Finanzelite Einfluss auf eine Bildungselite – gibt es dort etwa wissenswerte Korrelationen?
Der Aufsatz des bekannten Linguisten Noam Chomsky, “The Responsibility of Intellectuals” (1967, zu Deutsch: “Die Verantwortung der Intellektuellen”) hat schon zwei Dekaden vorher die Unzulänglichkeiten und Verfehlungen der intellektuellen US-Eliten (mit ihrer Anfälligkeit für den Einfluss seitens etablierter Machtstrukturen und des US-Staates allgemein) aufgezeigt – obgleich von einer weltanschaulich eher entgegengesetzten Position Blooms. Die Ereignisse nach März 2020 legen ebenfalls eine korrupte und ethisch bankrotte Kaste der Intellektuellen offen.
Der Druck, einen Ausweg zu finden, ist gänzlich auf das Individuum abgewälzt worden. Es ist selbst verschuldet. Persönliches Urteilsvermögen eines jeden Einzelnen wurde so weit verwundet, dass nicht einmal die trübe, aber auch immer wahrscheinlicher werdende Aussicht auf einen globalen Krieg die nötige Ernüchterung und Rückbesinnung mehr stimulieren vermag. Die eigene Unmündigkeit muss zuerst anerkannt und konfrontiert werden. Dazu fehlen die Methoden. Sie werden nicht mehr vermittelt.
Der Westen, dank des monolithischen Düsenantriebs seiner minderbemittelten ethikbefreiten Eliten, ist heute endlich an dem Ziel angekommen, wo das etatistische Dogma der moralischen, biologischen und geopolitisch-machtpolitischen Willkür einen schier unerschütterlichen Logen-Platz eingenommen hat. Blooms und Chomskys Schrecken sind nicht nur erbarmungslos in Erfüllung gegangen – der 1992 verstorbene Akademiker Bloom hätte sich nicht einmal träumen lassen können, in welchem Maße sie im Jahr 2024 sogar übertroffen werden würden. In den USA, in der EU, in der BRD.
Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.
Mehr zum Thema – Deutsche würden Harris wählen – die Frage ist, warum?