Von Gert Ewen Ungar
Die Welt wird multipolar. Das gilt als gesichert. Angesichts der Entwicklungen der letzten Tage stellt sich jedoch die Frage, ob es auch für Europa eine multipolare Welt geben wird. Vieles deutet vielmehr darauf hin, dass für Europa die beiden Supermächte zurückgekehrt sind, die schon nach dem Zweiten Weltkrieg Europa unter sich aufgeteilt haben. Verständigen sich Moskau und Washington, ist die EU machtlos, ist einer der Schlüsse, der sich aus den Nachbeben ablesen lässt, die der Eklat während des Treffens von Selenskij mit US-Präsident Donald Trump im Weißen Haus nach sich gezogen hat.
Trump hat Selenskij faktisch vor die Tür gesetzt, weil dieser sich über seine Position offenkundig im Unklaren ist. Er ist Bittsteller, fordert aber von den USA die Übernahme der ukrainischen Sicht auf den Ukraine-Konflikt. Das ist in der Tat vermessen. Selenskij beabsichtigt, den USA zudem erneut die Rolle einer Partei aufzuzwingen, aus der sich die US-Politik unter Trump gerade befreit hat. Nur auf der Grundlage der Unparteilichkeit kann Trump überhaupt mit dem Anspruch antreten, den Ukraine-Krieg beenden zu können ‒ als Vermittler, der sich nicht auf eine Seite schlägt.
Die EU und ein großer Teil ihrer Mitgliedsstaaten bleiben dagegen parteiisch und positionieren sich an der Seite Selenskijs. Nicht an der Seite der Ukraine, wohlgemerkt, denn das Festhalten Selenskijs und seiner westeuropäischen Unterstützer an dem unerreichbaren Ziel, einen Sieg über Russland erringen zu wollen, ist zum Schaden der Ukraine und ihrer Bevölkerung.
Fakt aber ist, dass den vollmundigen Ankündigungen der EU, sie werde den Ausfall der finanziellen und militärischen Unterstützung der USA auffangen, wenig an konkreten Maßnahmen folgen wird. Die EU verfügt zwar noch über die Möglichkeiten, den Ukraine-Krieg zu eskalieren, sie verfügt aber nicht über die Fähigkeiten, den Konflikt in ihrem Sinne, nämlich durch eine “strategische Niederlage Russlands”, für sich zu entscheiden. Dazu fehlt es schlicht an allem.
Es fehlt an einer einsatzbereiten Armee, an Produktionsstätten zur Waffenproduktion, an Satellitensystemen, an politischer Stabilität in gleich mehreren EU-Ländern und es fehlt an Rückhalt in der Bevölkerung für den Schritt, den Ukraine-Krieg zu einem europäischen Krieg zu machen. Auch wenn sich die EU für die Aufweichung der Schuldenregeln entscheidet und bereit ist, sich umfassend zu verschulden, sind diese Probleme nicht über Nacht zu beheben.
Der Aufbau der Rüstungsindustrie dauert Jahre, die Vereinheitlichung der unterschiedlichen und untereinander inkompatiblen Waffensysteme ebenso ‒ wenn sie nicht an den Eitelkeiten des ein oder anderen EU-Staatschefs ganz scheitert. Von einem eigenen satellitengestützten Navigationssystem, über das Russland mit GLONASS verfügt, kann die EU nur träumen. Die EU-Bürger werden sich trotz Dauerberieselung mit antirussischer Propaganda dennoch nicht ab morgen bereitwillig zum Frontdienst melden. Es ist aber nur noch eine Frage der Zeit, bis die Ukraine kapituliert. Hier geht es eher um Wochen als um Monate. Von den unlauteren Motiven einmal ganz abgesehen, kommt die EU einfach zu spät. Mit anderen Worten: Die EU hat schlicht nichts zu bieten.
Damit wird auch klar, wer den Takt vorgibt, nach dem die EU zu tanzen hat. Die Regeln für Europa werden zwischen Washington und Moskau ausgehandelt. Die EU und die Mehrheit ihrer Mitgliedsstaaten haben sich mit ihrer blinden Gefolgschaft gegenüber den US-Demokraten in die politische Bedeutungslosigkeit manövriert.
Für Europa sind die neuen Supermächte die alten: die USA und Russland. Sie bilden die Machtpole, an denen sich Europa auszurichten hat. Die Chance, selbst zu einer positiven Gestaltungsmacht auf dem europäischen Kontinent zu werden, wurde von der EU vertan. Statt für Diplomatie und Konfliktlösung hat man sich für Krieg entscheiden ‒ ohne über die Fähigkeit zu verfügen, ihn auch zu führen, wohlgemerkt. Ein Plan B existiert nicht.
Außerhalb der EU sieht es etwas anders aus. Dort gewinnen auch andere Akteure an Einfluss ‒ wenn auch langsam. Den arabischen Ländern gelang es, vor allem durch geschickte Diplomatie an Gewicht zu gewinnen. Die Länder Afrikas sind im Aufwind. Einige nutzten die Schwäche der EU, um sich ihrer noch immer bestehenden kolonialen Bürde zu entledigen. Der Sahel ist dafür ein herausragendes Beispiel. Südafrika etablierte sich als wichtiger diplomatischer Akteur.
Die EU hat sich dagegen selbst entleibt. Von “Supermacht” ist sie himmelweit entfernt. “Geopolitischer Akteur” passt ebenso wenig als Attribut zur EU, auch wenn sie sich selbst so sieht. Die EU muss im Gegenteil aufpassen, dass sie vor lauter Willen zum Krieg nicht völlig den Anschluss verliert ‒ wirtschaftlich, technologisch und diplomatisch. Vor allem aber muss sie wieder aufpassen, dass sie nicht zwischen Supermächten zerrieben wird.
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