Von Glenn Diesen
Das Treffen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SZO) im usbekischen Samarkand hat ein geoökonomisches Erdbeben ausgelöst, da eurasische Giganten wie China, Indien, Russland, Pakistan und der Iran ihre Volkswirtschaften auf ein nächst höheres Niveau integrieren. Unterdessen will die Türkei als erstes NATO-Mitglied ebenfalls der Gruppe beitreten.
Die Nachbeben dieses Treffens waren auch in Europa zu spüren, genauer gesagt: Während ich auf dem Budapester Wirtschaftsforum saß, das von der ungarischen Zentralbank organisiert wurde, konnte ich den Geist von Samarkand spüren, in dem eine eurasische Zukunft geplant wird.
Der Zusammenbruch des internationalen Wirtschaftssystems
Liberale internationale Wirtschaftssysteme bilden sich in der Regel dann, wenn es zu einer Konzentration wirtschaftlicher Macht unter einer starken Führung kommt. Mit einer immensen Konzentration fiskalischer Macht war der kollektive Westen in der Lage, als “gutartiger Hegemon” zu agieren, der Güter liefern und Vertrauen in eine stabile internationale Wirtschaftsordnung schaffen konnte.
Dies war die Europäische Union, in die Ungarn in den 1990er Jahren integriert wurde – als die USA die einzige Supermacht waren und die EU als Lokomotive für wirtschaftlichen und sozialen Wohlstand auf dem gesamten Kontinent galt.
Doch drei Jahrzehnte später sieht die Welt ganz anders aus. Der relative Anteil der EU an der Weltwirtschaft geht weiter stetig zurück, da sich die industrielle Wettbewerbsfähigkeit verschlechtert, die Verschuldung unhaltbare Höhen erreicht hat und die Zukunft des Euro düster aussieht. Auch in den USA geben die Wirtschaftslage und Fragen der politischen Stabilität Anlass zur Sorge.
Brüssel ist auch nicht in der Lage, eine umfassendere Zusammenarbeit zu ermöglichen. Die Union war nicht willig, Russland, den größten Staat des Kontinents, aufzunehmen, was letztlich zu einer Wiederbelebung der Dynamik des Kalten Krieges führte. Der britischen Forderung nach Erhalt der politischen Souveränität der nationalen Parlamente, konnte nicht entsprochen werden und Großbritannien verließ daraufhin die EU. Auch für die konservativen Bestrebungen Ungarns und Polens scheint im europäischen Haus kein Platz mehr zu sein. Da die Union damit droht, Milliarden von Geldern an Ungarn zu sperren, wird es schwieriger, eine politische Unabhängigkeit zu bewahren.
Wenn eine wirtschaftliche Hegemonie im relativen Niedergang begriffen ist, beginnt das internationale Wirtschaftssystem zu zersplittern. Um ihre Position im internationalen System zu verteidigen, wenden die USA und die EU wirtschaftlichen Zwang an, sowohl gegen Verbündete als auch gegen Gegner. Der Westen unterbricht die Lieferketten rivalisierender Mächte wie China und Russland, um deren Aufstieg zu verhindern. Während Freunde und Verbündete wie Indien, die Türkei und Ungarn ebenfalls dafür bestraft werden, dass sie keine geoökonomische Loyalität zeigen. Anschließend ist die unipolare Ära vorbei. Der Westen ist nicht mehr in der Lage, als gutartiger Hegemon zu agieren, indem er Güter bereitstellt oder ein auf Vertrauen basierendes internationales Wirtschaftssystem verwaltet.
Der Aufstieg Eurasiens
Das internationale Wirtschaftssystem zersplittert, da die in den letzten Jahrzehnten entstandenen wirtschaftlichen Abhängigkeiten jetzt als Waffe benutzt werden. Eine Vielzahl von Problemen, darunter disruptive Technologien, Krieg und Umweltzerstörung, bedrohen die Welt, doch die notwendige Zusammenarbeit gerät ins Stocken. Es ist offensichtlich, dass die unipolare Ordnung bereits vorbei ist und an ihrer Stelle eine multipolare Ordnung entsteht, um die wirtschaftliche Konnektivität wiederzubeleben und die Stabilität wiederherzustellen.
Dies wird durch die groß-eurasische Partnerschaft erleichtert, die mit der Entwicklung eines neuen multipolaren geoökonomischen Systems einhergeht. Die Länder auf dem eurasischen Superkontinent bauen die Konnektivität zwischen ihren Technologie- und Finanzzentren aus und verbinden sich physisch durch riesige Projekten bei der Infrastruktur, um so neue Verkehrskorridore zu bilden.
Das Ziel von Budapest ist es, ein Schlüsselknoten in diesem neuen eurasischen geoökonomischen System zu werden und die wirtschaftliche Konnektivität in einem multipolaren Format wiederzubeleben. Ungarn war das erste Land in Mittel- und Osteuropa, das ein Abkommen zum Währungstausch mit China unterzeichnete; und das erste in Europa, das sich Chinas Billionen-Dollar-Initiative für die “Belt and Road”-Infrastruktur anschloss.
Budapest knüpft nicht nur enger an den Wachstumsmotor Asien an, sondern baut sich auch als Brücke zwischen Ost und West auf. Ungarn widersetzt sich auch weiteren Sanktionen gegen Russland, um für sich den Zugang zu Energieressourcen aufrechtzuerhalten. Einfach ausgedrückt: Eurasien lässt die Globalisierung wieder aufleben.
Ein konservativer Weg
Ungarns eurasischer Weg steht auch im Einklang mit seinen konservativen Bestrebungen. Nach Jahrzehnten des Kommunismus und der Entwicklung des marxistischen Menschen versucht Ungarn natürlich, die Rolle der nationalen Kultur, der Kirche und der traditionellen Werte in seinem nationalen Bewusstsein wiederherzustellen.
Da neue Technologien und ungezügelte Marktkräfte Störungen verursachen, ist es notwendig, Wandel mit Kontinuität in Einklang zu bringen. Der Konservatismus verankert daher Stabilität im Ewigen, da der Fokus auf Familie, Glaube und Traditionen die Vergangenheit mit der Zukunft verbindet, um die Gesellschaft auf Brüche vorzubereiten.
Allerdings ist der Liberalismus im kollektiven Westen nicht besonders tolerant gegenüber konservativen Werten. Während früher der liberale Nationalstaat ein Erfolgsvehikel war, hat der Liberalismus in den letzten Jahren begonnen, sich vom Nationalstaat abzukoppeln. Der liberale Mensch befreit sich rasch von seiner eigenen Vergangenheit durch Multikulturalismus und radikalen Säkularismus, durch eine Abkehr von der Anerkennung der Familie als Hauptinstitution einer stabilen Gesellschaft, und durch eine Abneigung gegen traditionelle Werte.
Im Gegensatz dazu bedeutet Zusammenarbeit in einem multipolaren Eurasien nicht ein politisches System oder eine Konformität, um “Werte” zu exportieren. Die verschiedenen Zivilisationen im eurasischen Haus streben nach wirtschaftlicher und kultureller Konnektivität, während sie ihre jeweilige kulturelle Besonderheit bewahren. Als konservatives Land wird es für Ungarn paradoxerweise leichter, seine europäische Besonderheit im multipolaren eurasischen Format zu bewahren.
Hoffentlich wird Ungarn den Weg für den Rest Europas in Bezug auf den Übergang von der konfrontativen unipolaren Ordnung zu einem kooperativen multipolaren Format weisen – als westliche Halbinsel von Groß-Eurasien.
Übersetzt aus dem Englischen.
Glenn Diesen ist Professor an der Universität von Südost-Norwegen und Redakteur des Journals “Russia in Global Affairs”. Man kann ihm auf Twitter unter @glenn_diesen folgen.
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