Von Dr. Karin Kneissl
In den rund 20 Jahren vor dem Ausbruch des “Grande Guerre”, den wir den Ersten Weltkrieg nennen, kam es zu einer intensiven Verrechtlichung der internationalen Beziehungen. Was wir heute als multilaterale Diplomatie bezeichnen, fand als eine Serie von Großkonferenzen zwischen Den Haag und Sankt Petersburg statt. Es ging um das Kriegsrecht. Seit 1945 spricht man vom “Internationalen Humanitären Recht”. Dass Kriege nicht per Dekret verboten werden können, war den Realisten stets klar. Aber das Kriegsgeschehen sollte nicht in die völlige Barbarei abgleiten. Dafür bedurfte es klarer Restriktionen in der Kriegsführung, aber auch im Einsatz bestimmter Munition.
Das Völkerrecht und der russische Zar
Im Jahre 1899 ergriff Zar Nikolaus II. mit einem Abrüstungsmanifest die Initiative und lud gemeinsam mit der Königin der Niederlande zur ersten Haager Konferenz ein. Es entstanden über 13 Abkommen. Die Haager Landkriegsordnung von 1907 befasst sich mit den Regeln, die im Kriegsfall von den Staaten zu beachten sind.
Zar Nikolaus II., der gemeinsam mit seiner Familie im Revolutionsjahr 1917 von den Bolschewiken ermordet wurde, ist in Russland zwar für seine Rolle in der Modernisierung des Landes – siehe u. a. den Bau der Transsibirischen Eisenbahn – bekannt, doch zugleich ist mit seiner Person und seinem Scheitern als Feldherrn das Ende des alten Russlands verbunden. Wie viel Verrat und Lüge an diesem Schicksal ihren Anteil haben, ist nur jenen bekannt, die sich näher mit seiner Biografie befasst haben. Seit jeher faszinierte mich, mit welcher Überzeugung jener letzte Zar, aufgerieben zwischen Familie und Beratern, sich für das internationale Recht einsetzte. Jene Großkonferenzen, die er in Den Haag und Sankt Petersburg ausrichten ließ, setzten wichtige Maßstäbe in der Entwicklung all dessen, was dann später in die Genfer Rotkreuz Konventionen zur Wahrung der Humanität in Kriegszeiten einfließen würde.
Vor rund 30 Jahren unterrichtete ich das Thema des humanitären Völkerrechts vor dem Hintergrund der Kriege im zerfallenden Jugoslawien in mehreren Lehrveranstaltungen, wobei mich der Realismus der damals involvierten Diplomaten und Juristen sowie die kluge Normierung von Kriegsregeln faszinierte. Eine Regel ist mir in besonderer Erinnerung. Es handelt sich um die sogenannte Martens’sche Klausel. Demnach sollte immer dann, wenn keine Norm für einen Sachverhalt heranzuziehen war, das “öffentliche Gewissen” greifen. Diese Idee eines allgemeinen Gewissens, das sich an allgemeinen Tabus orientierte und damit als Leitfaden dienen sollte, war offenbar noch zu Beginn des blutigen 20. Jahrhunderts möglich. In einer völlig zersplitterten Welt, die sich kaum mehr auf allgemein gültige Normen oder universelle Werte einigen konnte, scheint auch diese Idee eines breiteren Gewissens verschwunden. Man kann es den Menschen vielleicht nach all dem Kriegsgeschehen nicht verübeln. Dabei sah die Welt um 1900 auch auf dem diplomatischen Parkett noch vielversprechend aus. Die diplomatischen Kontakte wurden auf hohem Niveau gepflegt, zudem halfen die verwandtschaftlichen Verhältnisse für das direkte Gespräch zwischen den Herrschern. Oder vielleicht war diese Vertrautheit auch nur eine Illusion, die spätestens mit den Schüssen von Sarajewo im Juni 1914 wie eine Seifenblase zerplatzte und dem totalen Krieg freien Lauf ließ?
Es war auch der russische Zar, der nach dem Attentat auf den Thronfolger der Habsburger nicht dem tragischen Automatismus der Ultimaten folgen wollte. Vielmehr schlug Nikolaus II. seinen Cousin Wilhelm vor, eine Sachverhaltskommission einzusetzen. Diese sollte die Umstände des Attentats untersuchen und Vorschläge auf dem Rechtswege erarbeiten. Eine hehre Idee, die aber im Getöse der Kriegsvorbereitungen in Wien und Sankt Petersburg leider völlig unterging. Vielleicht hätte mehr Besonnenheit das Blutvergießen vermieden, vielleicht hätte man mehr auf die vielen Ursachen der Probleme auf dem Balkan eingehen können. Die Habsburger setzten mehr auf vollendete Tatsachen, wie Annexion, Mobilisierung und Abbruch aller Beziehungen als den Blick auf das Ganze zu richten. Gewissermaßen hat diese Froschperspektive in Wien bis in die Gegenwart eine Tradition.
Der letzte russische Zar hatte jedenfalls die Grundlagen für die Haager Gerichtsbarkeit gelegt, die bis heute in Kraft sind. Es war das Ziel der Völkerrechtler am St. Petersburger Hof, dem ius gentium, also dem Recht der Völker, mehr Durchschlagskraft zu geben. Eine solche Verrechtlichung der Diplomatie war äußerst innovativ. Denn fortan sollte es mehr als Protokoll, Austausch und Bündnispolitik gehen. Das internationale Geschehen auf vertragliche Grundlagen gestellt. In der Zwischenkriegszeit wurde viel weiteres internationales Recht erschaffen, auch wenn man mit den 1920er und 1930er Jahren sonst eher Krise und Unsicherheit verbindet.
Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahmen die UNO und ihre Sonderorganisationen diese Aufgabe. Seit 1945 wurde an der Idee gefeilt, für Kriegsverbrechen auch Strafrecht zu schaffen. Die Tribunale von Nürnberg und Tokio waren der Auftakt. Doch es folgte danach keine weitere politische Initiative. Dabei hätten die Kriege in Korea, Vietnam oder rund um den Palästinakonflikt viel Aufarbeitung benötigt.
Im Zuge des Zerfalls von Jugoslawien nahm die Staatengemeinschaft einen neuerlichen Anlauf und schuf letztlich im Sommer 1998 das Römer Statut, da in der italienischen Hauptstadt das Finale der Sitzungen stattfaden. Damit war die vertragliche Grundlage für einen Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gegeben. Die Haager Gerichtsbarkeit des letzten Zaren war ein Stück weit vorangekommen.
123 Staaten sind dem Statut beigetreten. Von den fünf ständigen UN-Sicherheitsratsmitgliedern ratifizierten die USA, Russland und China nicht das Statut. Die USA setzten auch im Zuge der NATO-Osterweitung im Jahre 1999 alles daran, dass die Neumitglieder Nichtauslieferungsabkommen unterzeichneten, sodass US-Bürger nie unter die Jurisdiktion dieses neuen Gerichts kommen würde.
Der politisierte Internationale Strafgerichtshof
Der IStGH mit Sitz in Den Haag verfolgt seit 2002 besonders schwerwiegende Vergehen wie Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es ging aber meist um Sachverhalte auf dem afrikanischen Kontinent, sodass schon gemunkelt wurde, es handele sich um einen afrikanischen, nicht einen internationalen Gerichtshof. An Glaubwürdigkeit büßte die Institution weiter ein, als die USA im Jahr 2020 auch Ermittler mit einem Einreiseverbot in die USA belegten. Die damalige Chefanklägerin Fatou Bensouda wurde von den USA regelmäßig öffentlich angegriffen, da sie ihr Mandat ernst nahm und auch in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten aktiv wurde. Ihr Nachfolger ist seit Kurzem der Brite Karim Khan, der heute bekannt gab, Ermittlungen zu einigen Punkten im Ukraine Krieg aufzunehmen. Es geht insbesondere um den Vorwurf, dass ukrainische Kinder auf russisches Staatsgebiet gebracht wurden.
Weder Russland noch die Ukraine sind Vertragsstaaten des IStGH. Die Ukraine hatte aber nach der Krim-Annexion 2014 die Gerichtsbarkeit des Strafgerichtshofs für alle Verbrechen auf ihrem Territorium anerkannt. Da Russland den IStGH nicht anerkennt, kann der Gerichtshof jedoch nicht gegen Moskau wegen des Verbrechens der Aggression vorgehen. Die Regierung in Kiew drängt deshalb auf ein internationales Sondertribunal.
Dieses Sondertribunal für Russland wiederum wird lautstark von der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und anderen EU-Offiziellen betrieben. Der Schlachtruf lautet, dass die gesamte russische Regierung sowie Präsident Wladimir Putin und viele andere Personen für Kriegsverbrechen belangt werden sollen.
Die Ironie der Geschichte ist, dass die Haager Gerichtsbarkeit von russischen Juristen vor rund 124 Jahren auf Initiative des letzten Zaren begann, aber sie nun gegen russische Politiker eingesetzt werden soll. Weder werden Briten, US-Bürger oder andere für all jene Verbrechen belangt, die zum Beispiel Julian Assange in Afghanistan und im Irak aufdeckte, noch wird ein Sachverhalt zur gesamten Situation erarbeitet. Assange wurde für seine Aufdeckungen in London verhaftet und sitzt seit Jahren als politischer Häftling ein.
So ehrenwert die Idee dieser internationalen Strafgerichtsbarkeit und der individuellen Verantwortung von Tätern, ob Kommandeuren, Journalisten – so im Falle von Ruanda – und letztlich Politikern auch mir stets erschien. Die Umsetzung ist indes auf allen Linien gescheitert. Das Recht sollte stets das Mittel sein, um Emotion und im internationalen Bereich das Politische aus dem Fall herauszuholen. Der Gerichtshof erscheint aber politisierter denn je. Vor 120 Jahren gelang es Juristen noch die Welt zu verbinden. In unserer Zeit haben Parolen die Normen ersetzt. Es zerbricht sehr vieles, das es wieder aufzubauen gilt.
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