Von Dagmar Henn
Manchmal dauert es ein paar Tage, bis sich die Bedeutung eines Ereignisses in ihrer ganzen Breite erschließt. Das ist mit dem Vorgehen des Generalbundesanwalts gegen den Hilfsverein “Friedensbrücke-Kriegsopferhilfe e.V.” nicht anders. Die großen Hilfsorganisationen haben nur in einer Hinsicht Glück: Die Tatsache, dass die beiden Personen, gegen die in Karlsruhe Haftbefehle ausgestellt wurden, in Russland sind und Deutschland keine Verfahren in Abwesenheit kennt, verhindert vorerst, dass es auf Grundlage der Überzeugungen der Generalbundesanwaltschaft zu einem Urteil kommen kann, das dann einen entsprechenden Präzedenzfall schaffen würde. Wenn man länger darüber nachdenkt, wird klar, dass hier die Grundlagen humanitärer Hilfe in Kriegsgebieten generell bedroht werden, indem einem einzelnen Verein vorgeworfen wird, “terroristische Vereinigungen” namens Volksrepublik Donezk und Volksrepublik Lugansk unterstützt zu haben.
Ja, dafür muss man ein wenig ausgreifen. Der erste Punkt, der relativ schnell erkennbar ist, ist, dass diese Definition ungewöhnlich ist, weil sie die gesamte Zivilbevölkerung dieser Regionen mit umfasst. Ein völkerrechtlich bedenklicher Schritt, weil die Frage, ob eine bewaffnete Gruppe aus regulären oder irregulären Kombattanten besteht oder nicht, nichts damit zu tun hat, dass die Zivilbevölkerung trotzdem Zivilbevölkerung bleibt.
Jeder, der auch nur einen begrenzten Zeitraum politischer Geschichte überblickt, weiß, dass zum einen die Terroristen des einen die Freiheitskämpfer des anderen sein können (was nicht ausschließt, dass sie dennoch Terroristen sind), und dass zum anderen solche Bezeichnungen je nach der politischen Entwicklung auch wieder verschwinden.
Allein das südliche Afrika hat da in den letzten 50 Jahren eine bewegte Geschichte ‒ die SWAPO in Namibia und der ANC in Südafrika trugen beide das Etikett “Terroristen”, genauso wie die MPLA in Angola. Oder aber eben die IRA in Nordirland, die dann in den 1990ern plötzlich in der Regierung saß. Oder die albanische UÇK, die so lange terroristisch war, bis der Westen sein Interesse am Kosovo entdeckte. Oder zuletzt Herr al-Dschaulani in Damaskus. In manchen Fällen ist das sogar noch wechselhafter. Die PKK gilt in Deutschland nach wie vor als terroristisch, ist in Syrien aber Verbündete der USA. Ja, manchmal scheitern auch begonnene Friedensprozesse, und die ganze Entwicklung verläuft umgekehrt. Oder es werden eben aus dem einen oder anderen geopolitischen Interesse bestimmte Gruppen aufgebaut, die erst als Freiheitskämpfer gelten, und dann doch zu Terroristen werden, wie Al-Qaida.
Die Generalbundesanwaltschaft übergeht die nicht ganz unerhebliche Tatsache, dass es bei jedem größeren bewaffneten Konflikt eine leidende Zivilbevölkerung gibt, die auf verschiedenste Weise Not erleben kann. Das gilt in den vielfältig unübersichtlichen Konflikten in afrikanischen Ländern ebenso wie an der Frontlinie des ukrainischen Bürgerkriegs. Denn dafür, von der Versorgung mit lebenswichtigen Gütern abgeschnitten zu werden, genügt oft die Anwesenheit auf der “falschen” Seite. Auch in Gaza werden die Zivilisten nicht nach ihrer persönlichen Überzeugung gefragt, ehe ihnen eine israelische Bombe auf den Kopf fällt. Dieses humanitäre Leid entsteht in der Regel auf beiden Seiten einer Frontlinie, ganz unabhängig davon, wer die jeweiligen Kombattantengruppen als regulär oder irregulär betrachtet und warum.
Das Ziel humanitärer Hilfe ist es, Menschen zu erreichen und zu versorgen, die von solchen Situationen betroffen sind. Das ist für sich genommen keine Einnahme einer parteilichen Position im jeweiligen Konflikt, da auch die jeweilige Zivilbevölkerung, ob sie nun entsprechende Sympathien hegt oder nicht, keine Partei im jeweiligen Konflikt ist (es kennzeichnet aber tatsächlich terroristische Strukturen, dass ihnen diese Unterscheidung egal ist ‒ kolumbianische Todesschwadronen sind ein Beispiel für dieses Verhalten).
Nun darf man sich aber die praktische Umsetzung in einem Kriegsgebiet nicht so vorstellen, dass da jemand einfach, völlig unabhängig von den dortigen Ereignissen, hereinrauscht und dringend benötigte Güter verteilt. In den meisten Weltgegenden, wo verschieden bewaffnete Gruppen aufeinanderprallen, leben daneben Menschen einfach weiter, mehr schlecht als recht. Aber der Bereich, in den man einfach hineinfahren kann, endet in der Regel mindestens mehrere Kilometer von der Frontlinie entfernt. Die Orte, in denen der Mangel meist am größten ist, sind ohne eine gewisse Kooperation mit der jeweiligen örtlichen Macht nicht zu erreichen. Da macht es keinen Unterschied, ob das Gebiet von einer Befreiungsbewegung, einer regulären Armee oder einem Drogenkartell kontrolliert wird. Militärische Kontrolle heißt immer auch, dass eine Gegend selbst aus dem eigenen Hinterland nicht einfach betreten werden kann.
Und es gibt harte, materielle (oder vielmehr explosive und heiße) Gründe, warum es sowohl im eigenen Interesse derjenigen, die die Hilfe leisten, als auch im Interesse jener, die sie empfangen, geboten ist, hier zu kooperieren. Selbst in Kriegsgebieten fliegen nicht in jedem Bereich der Front an jedem Tag gleich viele gefährliche Dinge durch die Luft, seien es Raketen, Granaten oder Drohnen.
Auf der Webseite der Lokalpresse von Gorlowka wurde schon 2015 über Beschuss berichtet, als sei es der Wetterbericht. In eine Gegend zu fahren, die gerade aktiv beschossen wird, sorgt nur dafür, dass womöglich nicht nur die Hilfe verloren geht, sondern auch noch der Helfer. Und dann gibt es noch einen weiteren Aspekt: Unter Umständen wird auch die Ausgabe von humanitärer Hilfe durch die Gegenseite beschossen. Wenn man solche Situationen nicht vermeidet, wäre das Ergebnis das Gegenteil von Hilfe. Weshalb es gerade in Frontnähe sogar unverzichtbar ist, Begleiter dabei zu haben, die sofort warnen können, wenn für die Helfer oder die Empfänger der Hilfe eine Gefahr besteht.
Diese Probleme kennt jede Organisation, die derartige Hilfe leistet, egal, an welcher Stelle der Erdkugel. Genauso, wie LKWs, mit denen solche Lieferungen zumindest in die Nähe transportiert werden, kaum auf dem normalen Markt zu haben sind ‒ die meisten Transportunternehmen weigern sich, in Gegenden zu fahren, in denen ihre Fahrzeuge nicht versichert sind. Und in Kriegsgebieten zahlt keine Versicherung.
Kurz zusammengefasst: Jede derartige Organisation kann zwar kontrollieren, was sie selbst liefert, und darauf achten, dass die Hilfe auch die Bedürftigen erreicht, aber sie ist auf verschiedene Arten der Zusammenarbeit angewiesen, ohne die diese Hilfe nicht möglich wäre. Ob das jetzt eine Packung Kekse für eine Straßensperre ist, eine Zusammenarbeit mit örtlichen Behörden oder die Notwendigkeit einheimischer Partner für die Bereitstellung der Logistik.
In der Öffentlichkeit ist das weniger bekannt. Weshalb es relativ leicht ist, sie mit Informationen zu täuschen, wie Fotos, auf denen auch Bewaffnete zu sehen sind, oder die Lieferungen Partnern zuzuschreiben. Übrigens ist das teilweise auch im Journalismus nicht anders, sobald man sich in solche Gebiete begibt. Als ich 2015 im Donbass war, mit einer ganzen Gruppe von Journalisten, fuhr diese Gruppe nirgendwohin, ohne von Scharfschützen begleitet zu werden. Die gaben das Kommando, wann man einen bestimmten Ort wieder zu verlassen hatte, weil sie per Funk über mögliche Gefahren informiert wurden, aber sie waren auch dabei, um ‒ wenn nötig ‒ der ganzen Gruppe Deckung zu geben, falls von der teilweise nur 500 Meter entfernten anderen Frontseite jemand herüberballern sollte.
Seit dem Übergang zum Drohnenkrieg ist dieses Problem noch ausgeprägter als zuvor, weil schon eine Fortbewegung über längere Strecken ohne Drohnenabwehr fast unmöglich ist. Das dürfte in anderen Weltgegenden noch nicht ganz angekommen sein, aber bestenfalls noch einige Jahre dauern.
Wenn man diese technischen Hintergründe kennt, wird schnell klar, dass das, was dem Verein Friedensbrücke vorgeworfen wird, jede Organisation treffen kann, die Menschen in solchen Gebieten unterstützt. Denn wie die eine oder andere Kriegspartei bewertet wird, ist interessengelenkt und wandelbar. Es ist eine Sache, propagandistisch eine Seite hochleben zu lassen und die andere zu ignorieren, wie das gerade bezogen auf die Hilfe für den Donbass schon seit Jahren geschehen ist. Aber daraus eine Straftat zu konstruieren, wie es der Generalbundesanwalt getan hat, ist etwas ganz Anderes.
Nicht nur, weil man durch die Beschränkung von Hilfe auf die Zivilbevölkerung lediglich jener Regionen, die der Bundesregierung gerade genehm sind, den Grundgedanken des Humanitären entwertet und aufhebt, oder weil die Wechselläufe der politischen Geschichte dafür sorgen, dass plötzlich etwas zur Straftat werden könnte, was auf der “anderen” (bezogen auf die zivilen Opfer gibt es nur selten eine wirklich “andere”) Seite völlig legal wäre. Nein, in dem Moment, in dem humanitäre Leistungen der politischen Willkür untergeordnet werden, werden sie letzten Endes völlig verschwinden. Denn wer wird schon bereit sein, sich der Gefahr auszusetzen, die eine Reise in ein Kriegsgebiet nun einmal darstellt, um eine Hilfe zu leisten, die später zu einem Verbrechen gemacht werden könnte?
So etwas trifft sicher erst einmal nur die kleineren Organisationen, weil die ganz großen unter Umständen den riskanten Teil örtlichen Mitarbeitern überlassen können und so, zumindest vorerst, aus dem Schneider sind. Aber nehmen wir doch einmal eine historische Tatsache und spielen durch, wie sie auch hätte enden können, wenn man sie durch die Brille des Generalbundesanwalts betrachtet.
In den 1990ern war das deutsche katholische Hilfswerk Misereor in die brasilianische Innenpolitik verwickelt. Es finanzierte nämlich zu einem guten Teil mit Spendengeldern den Aufbau der brasilianischen Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais sem Terra) ‒ einer Organisation, die unter anderem durch Landbesetzungen für eine Landreform eintrat. Der Versuch einer Landreform war eine Generation davor der Grund gewesen, warum 1964 das Militär putschte.
Es ist nicht passiert, aber es wäre durchaus vorstellbar gewesen, dass es erneut zu einer derartigen Entwicklung kommt. Hätte es einen solchen Putsch gegeben, wäre das MST mit Sicherheit von der dann regierenden brasilianischen Junta zur terroristischen Vereinigung erklärt worden. Und wer die Geschichte der Beziehungen der Bundesrepublik zu lateinamerikanischen Militärdiktaturen kennt, sei es Chile unter Pinochet, Argentinien oder eben Brasilien, weiß, hätte es eben diesen Paragrafen 129b StGB gegeben und das deutsche Innenministerium im außenpolitischen Interesse entschieden (deutsche Konzerne machten in Brasilien beste Geschäfte), dann wäre das MST auch in Deutschland derart klassifiziert worden, und das brave Hilfswerk Misereor hätte sich plötzlich als Terrorunterstützer angeklagt gesehen.
Derartige Situationen lassen sich nur auf eine Weise vermeiden ‒ indem man die politische Bewertung humanitärer Hilfe unterlässt, und zwar gleich, ob sie nun mit den aktuellen außenpolitischen Zielen übereinstimmt oder nicht. Aber der Spielraum wurde in diesem Bereich immer weiter verengt. Auch die Sanktionslisten, die sogenannte “Dual-Use”-Güter verzeichnen, greifen bereits in die Möglichkeiten humanitärer Leistungen ein, und auch, wenn der Text der EU-Sanktionen behauptet, humanitäre Unterstützung sei ausgenommen, entspricht das nicht immer der Wirklichkeit.
Damit mussten sich viele Organisationen irgendwie arrangieren und haben es auch getan. Aber mit der Erfindung der Strafbarkeit ist der Punkt erreicht, an dem sich diese Tür endgültig schließt und die Vorstellung des Humanitären, die immerhin ein bedeutender zivilisatorischer Fortschritt war, preisgegeben wird. Das betrifft letztlich alle Personen und Organisationen, die in diesem Bereich tätig sind.
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